Gewalt in der Türkei: Heiße Tage vor türkischem 1. Mai
Die Polizei hat am Mittwoch einen Selbstmordanschlag auf den früheren Justizminister in Ankara vereitelt. Und neun Soldaten wurden bei einer Explosion am getötet.
In der türkischen Hauptstadt Ankara ist gestern ein Selbstmordanschlag vereitelt worden. Die beiden mutmaßlichen Attentäterinnen wurden auf dem Campusgelände der Bilkent-Universität festgenommen. Der Anschlag galt dem ehemaligen Justizminister Hikmet Sami Türk und sollte ihn offenbar während seiner Vorlesung im Hörsaal treffen.
Türk war im Dezember 2000 Justizminister und zeichnete verantwortlich für die "Operation Rückkehr ins Leben", bei der etwa 10.000 Sicherheitskräfte landesweit zwanzig Gefängnisse gestürmt hatten. Dabei wurden 30 Gefangene getötet und hunderte verletzt. Ziel der Aktion war der gewaltsame Stopp des Hungerstreiks linker Häftlinge, die nicht in die Haftanstalten des "Typs F mit Isolierhaft" wechseln wollten. Türk wurde seitdem bedroht und entging in den vergangenen Jahren mehreren Anschlagversuchen. Zumindest eine der beiden Attentäterinnen saß wegen Mitgliedschaft in der verbotenen DHKP-C acht Monate ein.
Die Türkei durchlebt eine heiße Phase. Derzeit läuft der Prozess gegen die rechtsnationalistische Ergenekon. Unter dem Vorwurf, einen Putsch vorbereitet zu haben, werden Exoffiziere und Zivilisten verhaftet. Bei ihren Ermittlungen findet die Polizei täglich neue Waffen.
Auch der anhaltende Kurdenkonflikt fordert weiterhin Opfer und verstärkt das diffuse Gefühl der Spaltung und Bedrohung in der Gesellschaft. Bereits am frühen Mittwochmorgen war gemeldet worden, dass neun Soldaten in Südostanatolien getötet worden waren. Auf der Landstraße zwischen Diyarbakir und Bingöl explodierte um 6 Uhr Ortszeit eine Bombe, zwei Unteroffiziere und sieben Wehrdienstleistende kamen ums Leben. Der Sprengsatz war am Straßenrand versteckt. Er wurde gezündet, als das Vorauskommando eines größeren Militärkonvois vorbeifuhr. Der Vorfall ereignete sich nahe Lice, das zum Hauptkampfgebiet der kurdischen PKK zählt.
In der Region kommt es immer wieder zu Gefechten, Bomben- und Minenexplosionen. Erst am 18. April hatten PKKler mit 60 Kilogramm Sprengstoff eine Armeeinheit angegriffen. Vor eineinhalb Monaten waren 100 Kilogramm Sprengstoff beschlagnahmt worden.
Die Woche begann in der Türkei mit einer großangelegten Operation in Istanbul, bei der drei Menschen ums Leben kamen. In Bostanci war ein Wohnhaus umstellt und der Linksextremist Orhan Yilmazkaya getötet worden. Der Einsatz wurde von dem Menschenrechtsverein IHD mit dem Argument kritisiert, dass die Polizei vor dem 1. Mai eine Atmosphäre der Bedrohung durch Linke und Kurden schaffen wolle.
Die Forderung der Gewerkschaften, am 1. Mai den zentralen Taksim-Platz in Istanbul für ihre Hauptkundgebung zu nutzen, lehnte Premier Tayyip Erdogan gestern ab. 2008 war die Polizei gegen Arbeiter, die zum Taksim-Platz wollten, mit unverhältnismäßiger Härte vorgegangen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden