Milo Rau an der Berliner Schaubühne: Gewalt der Bilder, Bilder der Gewalt
Braucht es Fotos vom Kriegsleid, um Kriege zu beenden, fragen Theatermacher Milo Rau und Solistin Ursina Lardi auf aufwühlende Weise in „Die Seherin“.

Milo Rau weiß, wie man Öffentlichkeit inszeniert. Direkt vor der Berliner Premiere seines neuen Stücks „Die Seherin“ hat er zur Pressekonferenz geladen – aus aktuellem Anlass. In der Klage, die der ehemalige Chef der rechtspopulistischen österreichischen FPÖ Heinz-Christian Strache gegen den Berliner Verbrecher Verlag eingereicht hat, ist der Verlag unterlegen. Milo Raus Buch „Widerstand hat keine Form, Widerstand ist die Form“ muss zurückgerufen werden.
Der polemische Satz, der dort aus einer Rede Raus dokumentiert ist, Strache sänge morgens ein antisemitisches Lied und besuche nachmittags die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, ist falsch. Richtig ist: Heinz-Christian Strache singt morgens keine antisemitischen Lieder. Grund für die Pressekonferenz sind nun allerdings die angekündigten Folgeklagen: gegen Milo Rau, gegen den Verein „Die Vielen“, wo er die Rede gehalten hat, gegen die „Wiener Festwochen“, die sie online gestellt haben. Milo Rau und Michaela Hesse, Referentin für Medienpolitik bei „ver.di“ sehen darin einen SLAPP-Fall, also einen „Strategic Lawsuit Against Public Participation“, eine angedrohte Klagewelle, die unliebsame Meinungen einschüchtern soll – und gegen die sie sich nun öffentlich wehren.
Fragen von medialer Inszenierung verhandelt auch Milo Raus neues Stück „Die Seherin“ in der Schaubühne – wenn auch auf ganz anderer Ebene. Ursina Lardi steht in Jeans im schmutzigen Wüstensand, zwischen alten Autoreifen und Plastikmüll. Auf der Video-Wand über ihr dieselbe Landschaft, in der Ferne ein irakisches Flüchtlingslager, wie wir später erfahren.
Lardi spielt eine Schauspielerin, die schicksalshaft zur Kriegsfotografin wird. Der Krieg und seine Bilder ziehen sie magisch an. Das fotografische Festhalten der Gewalt wird ihre Sucht, ja mehr noch: Sie entwickelt die Hybris, Bombeneinschläge vorauszusehen – und mit ihrer Kamera erst der Realität zuzuführen. Sie wird zur „Seherin“, die das Leid der anderen Menschen so fasziniert wie distanziert betrachtet. In jedem ihrer Worte spiegelt sich der Zwiespalt der medialen Darstellung von Gewalt: die Pflicht, das Unerträgliche in die Wirklichkeit zu tragen – der Zynismus, den Jahrmarkt der Sensationen zu bedienen.
Man muss zwei Mal hinschauen, bevor man den Tod sieht
„Wenn ein Krieg länger dauert als drei Monate, interessiert sich niemand mehr dafür. Presseagenturen lieben das erste Blut. Aber warum sollten sie über das hundertste Attentat berichten?“ Den kalten Blick trägt auch sie in sich: „Die Leichen am Strand von Khao Lak, nach dem Tsunami. Wie schlafende Badegäste. Ein super Bild, oder? Man muss zweimal hinschauen, bevor man den Tod sieht. Ganz anders hier: Leichenschauhaus. Ein Vater mit seinen toten Söhnen. Genau, das ist natürlich Gaza. Was ich bedaure: Dass ich den Bosnienkrieg verpasst habe.“
Bis sie selbst Opfer der Gewalt wird. Ihre Figur ist fiktiv, eingeflossen sind aber Gespräche mit realen Kriegsfotografen, mit Menschen aus dem Irak. Zudem sind Rau und Lardi nach Mossul gereist und dort auf den Lehrer Azad Hassan gestoßen, der jetzt im Video mitspielt. Aus der Ferne kommt er auf uns zu. Eine Hand in der Jackentasche. Erst später sehen wir: Nur ein Stumpf ist davon übriggeblieben. 2015 haben ihm IS-Schergen in einem öffentlichen Tribunal die Hand abgehackt. Mit Azad Hassan gelangt die reale Kriegsgewalt in den Abend, ähnlich wie Milo Rau es in „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“, ebenfalls mit Ursina Lardi, inszeniert hat, damals mit einer Frau aus Burundi.
Die Gewalt, das ist der Clou der Inszenierung, wird nun auf der Bühne kaum abgebildet. Und doch ist die Faszination für sie allgegenwärtig. Im Grauen der pointierten Erzählung von Azad Hassan. Im Voyeurismus, der in den detailgenauen Schilderungen von Ursina Lardi liegt. Milo Rau weiß, diese Effekte zielgenau einzusetzen – ist aber klug genug, seine eigene Faszination für Gewalt ebenfalls zu thematisieren.
Und so macht dieser intelligente, aufwühlende Abend mit seiner herausragend präzise spielenden Hauptdarstellerin Fragen auf, die weit über Medienkritik hinausgehen. Bedrückende Fragen von Azad Hassan. Er kommt nicht über die johlende Menge hinweg, die sich freut, als ihm die Hand abgehackt wird. Über die Brutalität im nahen Umfeld. Aber auch Fragen wie: Brauchen wir Bilder, etwa aus Gaza, um Kriege zu beenden? Wer hat die Hoheit über diese Bilder? Fragen, die schon die Fotografie-Ikone Susan Sontag gestellt hat, die jedoch in Zeiten von Social Media und KI dringlicher werden.
Kassandra, Philoktet, antikes Drama
Dass Milo Rau auch noch die Ebene des antiken Dramas einwebt, mit Ursina Lardi als Seherin Kassandra, als verwundeter Krieger Philoktet, verleiht dem Abend zwar eine allzu pathetische Note, ebenso wie Bachs „Agnus Dei“, das den Abend grundiert. Doch eine derart ambivalente, zerrissene Figur wie die der Fotografin, die uns jeden einfachen Ausweg aus dem Dilemma versperrt, hat man lange nicht auf der Bühne gesehen.
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