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Archiv-Artikel

Getrickst oder nicht?

betr.: „Ist das Grundgesetz beschädigt?, taz vom 2. 7. 05

Über die Verteidigung des Kanzlers in Sachen Vertrauensfrage kann man streiten. Absolut inakzeptabel finde ich aber den letzten Satz des Beitrags von Christian Rath: „Aber gerade weil es heute so weitverbreitete Sympathie für die Grundgesetzänderung gibt, besteht umso weniger Grund, den geltenden Artikel 68 besonders streng auszulegen.“ Weitverbreitete Sympathie also: das reicht schon, so einfach ist das! Da wird das Grundgesetz dieser Republik von einem staatstragenden Regelwerk zu einer Art Verwaltungsempfehlung heruntergestuft, die man zwar bei Nichtgefallen – dank Grundgesetz – nicht einfach zurückgeben, aber doch schon mal locker auslegen darf. Wie schreibt der Autor doch im Abschnitt darüber? „Die Weimarer Republik ist … gescheitert, weil es damals zu wenig überzeugte Demokraten gab.“ CORDULA LEOWALD-MAYER, Schöneck

Der Beitrag von Herrn Rath enthält zwei sowohl politisch als auch juristisch höchst problematische Ausführungen: 1. Der Begriff „Erpressung“ bezogen auf die SPD-Linken ist den Bereichen des Strafrechts und der privaten Beziehungen entnommen. In der Politik spricht man dagegen von „Druck ausüben“ oder „die Machtfrage“ stellen, was völlig legitim und moralisch überhaupt nicht anrüchig ist. Schreiner & Co. würden nur ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrnehmen, wenn sie Herrn Schröder bis 2006 „in der Furcht des Herrn“ hätten leben lassen – und der Bundeskanzler hätte dies als Teil des politischen Spiels akzeptieren müssen. 2. Die These, dass der Kanzler einem Teil des Parlaments „das Misstrauen aussprechen kann“, ist geradezu abenteuerlich und stellt die Verfassungsnorm auf den Kopf! In einer parlamentarischen Demokratie ist die Regierung immer noch von der Mehrheit der Volksvertretung abhängig und nicht umgekehrt! Gegen die legitimen Pressionsmittel renitenter Abgeordneter verleiht das Grundgesetz dem Regierungschef durch den Art. 68 ein ebenso legitimes Gegenmittel. Es soll dem Kanzler ermöglichen, sich mit der Auflösungsdrohung gegebenenfalls im Bundestag eine Mehrheit zu erzwingen. Dieses Ziel der Mehrheitserzwingung wurde jedoch von Gerhard Schröder erkennbar nicht verfolgt. Verfassungsrechtlich korrekt wäre allein sein Versuch gewesen, bis 2006 bei allen strittigen Entscheidungen den Art. 68 als Druckmittel zu nutzen und über einer unwilligen Regierungsmehrheit die ständige Drohung der Parlamentsauflösung kreisen zu lassen. Damit hätte Pression gegen Pression innerhalb eines in der Verfassung vorgesehenen prozeduralen Gleichgewichts gestanden, und das Ergebnis wäre von den aktuellen realen Machtverhältnissen abhängig gewesen. Es spricht für Verluderung der politischen Klasse, dass sie die hierfür erforderliche Konfliktfähigkeit innerhalb eines prozeduralen Rahmens nicht mehr aufbringt und sich stattdessen die Verfassung so zurechtbiegt, wie es ihr gerade opportun erscheint. FRIEDHELM GRÜTZNER, Bremen

Die Verfassungsgemäßheit von Neuwahlen ist einzig unter dem Aspekt fraglich, wie groß der Ermessensspielraum des Bundespräsidenten nach der Vertrauensfrage ist. Der Bundestag ist dagegen nicht einen Millimeter von Art. 68 GG abgewichen. Die juristische Aufgeregtheit über die Vertrauensfrage ist unbegründet. Es ist völlig üblich, dass dort, wo Abstimmungen stattfinden, auch strategisch abgestimmt wird, also gegen die eigene Meinung votiert wird, um mittelbar ein anderes Ziel zu erreichen. Die Verfassungswidrigkeitsargumentierer müssten konsequenterweise viele Gesetze, die mit formaler Koalitionsmehrheit verabschiedet wurden, ebenso als verfassungswidrig ansehen, weil Abgeordnete aus Gründen der Koalitionsdiziplin, aber gegen ihre eigentliche Überzeugung zugestimmt haben. BERTRAM WENDE, Ennepetal