Getauschte Träume

Staunen im Sanierungsgebiet. In Pankow, wo nichts mehr stattfindet, präsentieren17 leer stehende Läden nun Kunst. In einem kann man seine Nachtgedanken festhalten

von JENNI ZYLKA

Jede Nacht, wenn der Körper müde schlafen geht, treffen sich die fidelen Gedanken an abgelegenen Synapsenknoten und sausen Hirnströme auf und ab, an die sie schon lange nicht mehr gedacht haben. So ähnlich erklären manche Wissenschaftler die Entstehung von Träumen. Tagesreste kommen dazu, und am Morgen verflüchtigen sich die wilden, nächtlichen Gedankenspiele. Es sei denn, man hält sie sofort fest.

Die Berliner Künstlerin Ellen Kobe hat einen Raum geschaffen, der dazu einladen möchte – einen Ort „für einen guten Traum“, einen Ort, an dem der Traum festgehalten werden kann und soll. „Schlafgast“ heißt die Installation, und sie besteht zuerst aus einem Bett. Weiße Vorhänge trennen den Traumraum vom Rest der Ausstellung. Neben dem Bett steht ein Schreibtisch, dort kann man sich am Morgen sofort mit bereitliegenden Schreibutensilien an die Traumdokumentation machen, aufschreiben oder aufmalen, was einem des Nachts durch den Kopf ging.

Ellen Kobe tauscht gerne. In der Installation „Schlafgast“, die eine Woche lang der Öffentlichkeit zugänglich ist, möchte sie „eine Nacht für eine Nachricht“ tauschen. Jede Nacht in dieser Woche soll ein anderer Träumer das Bett benutzen, um am nächsten Morgen anonym seine Gedanken festzuhalten, eine „Nachricht“ zu hinterlassen. Ellen Kobe hat das vorgemacht: Ihr „Traumdokument I und II“ stellt sie ebenfalls aus, auf dünnen Blättern hat sie an den Wänden des „Schlafgast“-Raumes einen ein paar Jahre zurückliegenden Traum dokumentiert. Wie assoziativ zusammengestellt tauchen persönliche Bilder, Gedanken, Erinnerungen, Bruchteile von Gedichten auf, der Zusammenhang ist so flüchtig, wie es jeder aus eigenen Träumen kennt.

„Ich will einen intimen Ort in einem öffentlichen Raum schaffen“, sagt sie und sieht ihre Arbeit als Gegenstück zu der „Big Brother“-Idee: „Da wird Intimes an die Öffentlichkeit gezerrt, und damit ist es nicht mehr intim.“ Noch mehr gehört zu der „Schlafgast“-Idee: Was braucht man, um sich in einem Raum für eine Nacht wohl fühlen zu können? In der Readymade-Installation „All you need . . .“ nebenan im kleinen Bad kann der Schlafgast sich mit Toilettenaccessoires eindecken, eine Mark pro Zahnbürste, Rasierer, Hautcreme oder Kamm. Wieder tauscht man – eine Mark für alles, was man braucht. Dazu läuft „All you need is love“ in einer Endlosschleife – sehr schön. Obwohl auch „Sawing the seeds of love“ von Tears for Fears passen würde.

Der vierte und größte Teil der Ausstellung ist nämlich Ellen Kobes „Kleines Rasenstück“. Frei nach Albrecht Dürers Bild „Großes Rasenstück“, auf dem er säuberlich jeden Millimeter Grashalm zeichnete, hat Ellen Kobe das Bild dreidimensional gemacht – sie hat Grassamen in Papier ausgesät. Das mit Gras bewachsene Papier wird wie ein „hängender Garten“ in einem Rahmen präsentiert, man kann sich den Rasen von unten angucken, von oben sowieso. Und eine weitere Ebene kommt dazu – das Bild wird begrenzt von der Zeit, die jeder Betrachter zur Verfügung hat. Es wächst beim Zuschauen, und wenn man es genau nimmt, sieht jeder ein anderes Bild. Natürlich möchte Ellen Kobe auch hier wieder tauschen, diesmal ein kleines, postkartengroßes Stück Papier mit eingearbeiteten Grassamen gegen 3 Mark. Oder einen Grassamen gegen 10 Pfennig.

Wenn sie ihren Schlafgast mit dem Schlüssel zum Traumraum allein gelassen hat, geht sie nach Hause. „Das Ganze basiert auf Vertrauen“, sagt sie. Ellen Kobe wohnt in Pankow, gleich um die Ecke. Ihr Werk ist Teil einer Pankower Sammelausstellung. Die „Kunstläden auf Zeit“ bestehen aus 17 leer stehende Läden entlang der so schönen wie heruntergekommenen Pankower Florastraße, ehemaligen Fischgeschäften, Videotheken, Buchshops, Pelzläden, mit deren künstlerischer „Bespielung“ die Künstler gegen den monatelangen Leerstand protestieren wollen.

Sie präsentieren Kunst dort, wo eigentlich nichts mehr stattfindet, Keramik, Landschaftsbilder, Installationen und Skulpturen. Manche, wie die großformatigen, eindrucksvollen und knallbunten Bilder des Mexikaners Oscar Castillo, beherrschen den Raum. Seine Tiermotive führen weit weg aus dem ehemaligen DDR-Funktionärswohngebiet, in dem jetzt zum Abriss bereitstehende Prunkbauten neben wenigen renovierten Gebäuden stehen, gesäumt von erstaunlich vielen teuren Autos, ein Smart neben dem anderen, ein Mercedes-Cabrio neben dicken BMWs.

Viele der Kunstläden-Künstler haben einen Bezug zu ihrer Umgebung, scheinen die Motive ihrer Bilder oder Skulpturen in der Nähe zu suchen. Bis Mitte Juni kann man das Sanierungsgebiet noch bestaunen.

„Kunstläden auf Zeit“ bis 11. 6. in der Pankower Florastraße, Fr. 16–19, Sa./So. 14–18 Uhr und nach Ermessen der KünstlerInnen