Gesundheitssystem in Malawi: Mütter und Kinder sterben

77 Prozent der Stellen in staatlichen Krankenhäusern sind unbesetzt, gut ausgebildete PflegerInnen wandern ab – mit drastischen Folgen.

Kaum irgendwo ist die Kindersterblichkeit so hoch wie in Malawi. Bild: rts

LILONGWE taz | Die kleine Krankenstation, die eine halbe Stunde mit dem Auto von der malawischen Distrikthauptstadt Thyolo entfernt steht, ist ein unscheinbarer Flachbau. Nachdem die Sprechstunde vorbei ist, fließt durch die offenen Abwasserrinnen im Hof eine Mischung undefinierbarer Flüssigkeiten. Ein gebeugter Mann im Overall versucht mit einem zerfledderten Mob, der Überschwemmung Herr zu werden. "Wir hatten heute gut 400 Patienten hier, wie jeden Tag", klagt Dan Chunda.

Chunda ist Sanitäter. Gemeinsam mit einem Kollegen und vier Krankenschwestern ist er für gut 67.000 Bewohner der umliegenden Dörfer zuständig - rund um die Uhr. Einen Arzt, den Chunda rufen könnte, gibt es nicht. Nach einem Tag wie heute ist der 30-Jährige völlig erschöpft. "Ich kümmere mich um alles, Infektionen, Operationen, die Aids-Klinik." Oft zweifelt Chunda an sich selbst und daran, ob er den Patienten wirklich helfen kann.

Chundas Klinikalltag ist in Malawi, einem der ärmsten Länder Afrikas, keine Ausnahme. "Auf einen Arzt kommen in meinem Distrikt mehr als 158.000 Patienten", rechnet Doris Kayambo vor, die für die Gesundheitseinrichtungen im Süden Malawis zuständig ist. "Bei Krankenschwestern kommt eine auf 5.000 Patienten." 86 von 1.000 Säuglingen sterben in Malawi.

Ab Montag findet in New York eine Konferenz über die Millenniumsentwicklungsziele statt. Acht Ziele sollen bis 2015 erreicht werden.

Armut und Hunger: Von 1990 bis 2015 soll die Zahl derjenigen Menschen halbiert werden, die mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag in absoluter Armut leben. Im gleichen Zeitraum soll der Anteil der Hungernden auf die Hälfte sinken.

Bildung: Bis 2015 wollen die Regierenden sicherstellen, dass alle Kinder eine vollständige Grundschulbildung erhalten.

Mann und Frau: Geschlechtergefälle im Bildungswesen und im Beruf sollen beseitigt werden.

Kindersterblichkeit: Von 1990 bis 2015 soll die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren um zwei Drittel sinken.

Müttersterblichkeit: Die Rate der Mütter, die durch Komplikationen bei Schwangerschaft oder Geburt sterben, soll von 1990 bis 2015 um drei Viertel zurückgehen.

Krankheiten: Ziel ist, bis 2015 die Ausbreitung von HIV/Aids, Malaria und anderen gefährlichen Krankheiten zum Stillstand zu bringen. Bis 2010 sollten alle Aids-Patienten lebensverlängernde Medikamente bekommen.

Ökologie und Wasser: Der Verlust von Artenvielfalt, Fischbeständen und Wäldern soll gestoppt werden. Bis 2015 soll der Anteil der Menschen ohne Trinkwasser und sanitäre Anlagen um die Hälfte sinken. Die Lebensbedingungen von mindestens 100 Millionen Slumbewohnern sollen sich verbessern.

Entwicklungspartnerschaft: Ziel ist, ein auf Regeln gestütztes Handels- und Finanzsystem weiterzuentwickeln, das keine Länder diskriminiert. Die ärmsten Länder sollen Schuldenerlasse und Handelserleichterungen erhalten.

Nur in elf Ländern, etwa Afghanistan oder Somalia, ist die Säuglingssterblichkeit höher. Das Millenniumsziel, die Säuglingssterblichkeit bis 2015 um zwei Drittel zu senken, scheint in Malawi unerreichbar. Ähnlich sieht es bei der Müttersterblichkeit und dem Zugang zu Verhütungsmitteln aus. Im Schnitt bringt jede malawische Frau sechs Kinder zur Welt, im globalen Vergleich ist das Rang 14.

Gleich um fünf werdende Mütter muss sich Loice nee Mkandawirie in dieser Nacht kümmern. Noch bevor ihre Nachtschicht richtig begonnen hat, steht ihr die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. "Ich arbeite in Zwölfstundenschichten", sagt die 44-Jährige mit ruhiger Stimme. "Wenn ich die Nachtschicht habe, bin ich allein hier."

Für die Geburten ist sie dann ebenso verantwortlich wie für alle Notfälle. "Wenn zwei Frauen gleichzeitig gebären, muss ich sie eben so hinlegen, dass ich beide Geburten gleichzeitig im Auge behalten kann", erklärt sie. Immerhin fallen ihr nie die Augen zu. "Ich habe zu viel zu tun, um müde zu sein."

Schuld an der Misere, weiß Shenard Mazengera von der Hilfsorganisation Oxfam, ist der marode Zustand des staatlichen Gesundheitswesens. "Wer eine medizinische Ausbildung hat, wechselt, sobald er kann, in Privatkrankenhäuser oder zu Hilfsorganisationen, da ist das Gehalt bis zu fünfmal höher."

Trotz eines Notpakets, mit dem britische Geber die Bezüge für Krankenschwestern um mehr als 50 Prozent erhöht haben, verdienen die meisten nicht genug, um ihre Familie über die Runden zu bringen. 20.000 Kwacha, umgerechnet 100 Euro, beträgt das Spitzengehalt.

Die Hälfte geht für ein einfaches Zimmer in einem der Armenviertel drauf, rechnet Mazengera vor. Schon der Bus von dort zum Krankenhaus verschlingt täglich ein paar hundert Kwacha. Und fürs Essen bleibt kaum etwas übrig.

Kein Wunder, dass kaum jemand in Malawi bleiben will. 77 Prozent aller Stellen in den staatlichen Krankenhäusern sind derzeit unbesetzt, auch deshalb, weil Großbritannien jahrelang tausende der gut ausgebildeten Krankenpfleger und Schwestern für sein eigenes Gesundheitssystem abgeworben hat.

Tausende mit Staatsmitteln und internationalen Entwicklungsgeldern ausgebildete Malawierinnen und Malawier stiegen nach Abschluss ihres Trainings in ein Flugzeug nach London und kamen nicht zurück. Erst als der Druck der Regierungen aus Malawi und Europa so stark war, dass die Regierung Blair einen Skandal fürchtete, machte sie die Grenzen für afrikanische Mediziner dicht. Geändert an der Abwanderung hat das nichts.

Heute zieht das medizinische Personal stattdessen nach Südafrika, wo es mehr Geld und vor allem weniger Arbeit gibt. Dass in Malawi fast jeder hundertste Säugling stirbt, liegt auch daran, dass entwickeltere Länder ihre Gesundheitssysteme auf Kosten der Ärmsten sanieren.

"Wenn ich das Geld für ein Visum und die Reise hätte, wäre ich auch längst weg", bekennt Gertrude Banda freimütig. Banda mag ihren Job, sie hat ihn aus Überzeugung gewählt. Dass sie reich wird, hat sie nie erwartet. Aber der Mangel an Fachkräften treibt absonderliche Blüten: Manche Krankenschwestern erscheinen am Markttag nicht zum Dienst, weil sie Eier oder Gemüse aus dem eigenen Garten verkaufen müssen, um zu überleben.

Gefeuert werden sie trotzdem nicht: besser ab und zu eine Krankenschwester im Dienst als nie. "Andere kommen betrunken ins Hospital oder misshandeln die Patienten", berichtet Banda. "Niemand tut etwas dagegen - Schwestern sind praktisch unantastbar." Denn ohne Schwestern kann jedes Krankenhaus dichtmachen.

Die erste Gewerkschaft

Dorothy Ngoma kennt die Probleme aus eigener Erfahrung. Die resolute Hebamme hat ihren Beruf kurz nach der Unabhängigkeit von Großbritannien 1964 gelernt. "Nach zwei Jahren hatte ich genug von schreienden Kindern und Müttern", sagt Ngoma. "Die Arbeitsbedingungen waren haarsträubend, genau wie heute."

Ngoma verließ ihr Krankenhaus und gründete kurz darauf Malawis einzige Gewerkschaft für Krankenschwestern. "Als ich angefangen habe zu arbeiten, gab es drei Millionen Einwohner in Malawi, und Aids war unbekannt", erklärt sie. "Heute sind wir fünfzehn Millionen, und die Epidemie hat das Land fest im Griff."

Der Regierung wirft sie vor, zu wenig zu tun, um das Leid der Menschen zu verbessern. "Wir sind mitten in einer Krise, unsere Mütter sterben, unsere Kinder sterben, aber es passiert nichts."

Hilfsgelder aus Norwegen von mehr als 10 Millionen Euro habe die Regierung dazu verwendet, neue Schulgebäude für die Schwesternausbildung zu bauen. "Jetzt haben wir diese wunderschönen, gut ausgerüsteten Häuser, aber keine Lehrer und bald auch keine Stipendien mehr - das ist doch absurd."

Selbst die kleinen Erfolge sind bedroht. Denn die aus einem Geberfonds bezahlten Gehaltszuschüsse sollen ebenso wie die Subventionen für die Ausbildung des Krankenhauspersonals Ende des Jahres auslaufen. Westliche Regierungen, allen voran Großbritannien, wollen das bisherige Programm nicht mehr verlängern.

Malawis Regierung hat bisher noch keine Idee, wie sie die fehlenden Zuschüsse ersetzen soll. Nicht einmal ein Drittel des Gesundheitsetats bestreitet der Staat aus Eigenmitteln, der Rest sind Gelder aus der Entwicklungshilfe. Es sieht so aus, als müssten tausende angehende Krankenschwestern mitten in der Krise ihre Ausbildung abbrechen. Denn ohne die Zuschüsse würde die Schwesternausbildung 3 Millionen Kwacha kosten.

Nur um das Schulgeld zurückzuzahlen, müsste eine Schwester zwölf Jahre lang arbeiten, vorausgesetzt, sie müsste nichts für ihren Lebensunterhalt bezahlen. Zu einer solchen Investition ist niemand in der Lage, es sei denn, er arbeitet nach Abschluss seiner Ausbildung im Ausland.

Dabei nimmt die Regierung Gesundheitsfragen durchaus ernst. Der Budgetanteil von 14 Prozent entspricht fast dem von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Wert. Aber zu den Mängeln im Gesundheitssystem addieren sich fehlender Strom, Wasser und Infrastruktur vor allem auf dem Land, so der Oxfam-Experte Mazengera. Es gebe schlicht zu viele Krisenherde, die gleichzeitig bewältigt werden müssten. "Wir brauchen verlässliche Geber."

Danach sieht es bislang aber nicht aus. Malawis Säuglinge werden vorerst wohl weiter sterben müssen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.