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GesundheitFlucht in die Sucht

Der größte Suchtfaktor in Berlin ist Alkohol - die Senioren der Stadt sind deutlich abhängiger als im Bundesdurchschnitt.

Viele Berliner greifen oft und gerne zur Flasche. Bild: AP

In Berliner Kliniken werden fast doppelt so viele ältere Menschen mit handfesten Alkoholproblemen behandelt wie im Bundesdurchschnitt. Als Ursache für die Sucht sehen Ärzte auch die schwierige soziale Lage in der Hauptstadt. „Eine große Rolle spielt sicher die Arbeitslosigkeit. Uns fällt immer wieder auf, dass Menschen mit Arbeit eine viel ausgeprägtere Fähigkeit zur Abstinenz haben“, sagt Darius Chahmoradi Tabatabai, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum.

In der großen Entwöhnungsklinik wurden von Januar 2011 bis heute 580 Menschen stationär aufgenommen – oft für mehr als drei Monate. Darunter waren 53 Patienten über 60 Jahre alt, 23 über 65 und 10 über 70. Mehr als 10 Prozent über 60 Jahre sei ein relativ hoher Anteil, sagt Tabatabai. Der Bundesschnitt liege nur bei 5,7 Prozent. Viele der Patienten, überwiegend Männer, litten zusätzlich an einer Persönlichkeitsstörung. Sie seien deshalb nicht in der Lage zu erkennen, dass sie ein Suchtproblem haben, erläutert der Arzt.

Alkohol ist nach der jüngsten Berliner Suchthilfestatistik mit Abstand der größte Suchtfaktor in der Hauptstadt. Mehr als 40 Prozent der ambulant und stationär behandelten Suchtpatienten waren Alkoholiker. Die Techniker Krankenkasse beobachtet Alkoholismus zunehmend auch bei älteren Menschen. So stieg die Anzahl der Klinikaufenthalte bei TK-Versicherten über 60 zwischen 2009 und 2011 um 6 Prozent auf 950.

Die Berliner Charité will Zahlen zu Alkoholismus bei älteren Menschen künftig gesondert erheben. „Bisher war das kein Thema, weil man Senioren und Alkoholabhängigkeit nicht in Verbindung gebracht hat“, sagt Adelheid Kuhlmey, Professorin am Charité-Institut für medizinische Soziologie.

Übergänge im Leben, zum Beispiel in den Ruhestand, seien immer heikle Passagen – so mancher greife dann zur Flasche. Studien zeigten aber, dass die Anpassungsfähigkeit im Ruhestand hoch sei. Viele Menschen kämen nach einer kurzen Eingewöhnungsphase gut mit dem neuen Lebensabschnitt zurecht. Kuhlmey schätzt, dass eher die späten Altersjahre gefährlich für Sucht werden können. „Die lange Zeit, in der wegen körperlicher Einschränkungen nicht mehr alles so geht“, sagt sie. Menschen müssten häufig, auch wegen des Todes des Partners, mit einem eingeschränkten Aktionsradius zurechtkommen.

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