Gespeicherte Handydaten: Offenbar ganz Dresden überwacht
Es werden immer mehr: Das sächsische Innen- und Justizministerium räumt die Erfassung von über 1.000.000 Mobilfunk-Verbindungsdaten ein.
BERLIN taz | Die massenhafte Handyüberwachung in Dresden hat weit größere Dimensionen als bislang zugegeben. In dem am Freitag veröffentlichen Bericht des Sächsischen Innen- und Justizministeriums an Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) wird die Erfassung von weiteren 896.072 Mobilfunk-Verbindungsdaten eingeräumt. Damit steigt die Zahl der insgesamt erfassten Daten auf über eine Million.
In dem sechsseitigen Papier bleibt zu diesem zweiten Fall von flächendeckender Handyüberwachung vieles wolkig. Etwa auf welchen Bereich und welchen Zeitraum sich diese Abfrage erstreckt hat. Lediglich vom 18. und 19. Februar ist die Rede. Der Erhebung liege der Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung zugrunde, sagte Justizminister Jürgen Martens (FDP). Konkreter wurde er nicht. Die Daten gingen zunächst an das Landeskriminalamt; dort sind sie noch immer gespeichert und werden "aktuell weiter ausgewertet", heißt es in dem Bericht.
Auch zu dem von der taz zu Beginn der Woche aufgedeckten Fall einer flächendeckenden Funkzellenauswertung beim Antinaziprotest vom 19. Februar werden in dem Bericht weitere Details genannt. So liegen den erhobenen 138.630 Datensätzen ganze 65.645 Rufnummern zugrunde. "Aus diesen Rufnummern wurden anhand von Kriterien wie Häufung von Telefonaten und Aufenthalt […] 460 Rufnummern von 406 Personen und Institutionen herausgefiltert." Von der Dimension ihrer Sammelwut scheinen die Behörden selbst überrascht zu sein: "Bei Beantragung der Maßnahme war das Ausmaß des Datenaufkommens nicht einschätzbar", heißt es in dem Bericht.
Innenminister findet die Datenerfassung verhältnismäßig
Am Freitag wurde zudem bekannt, dass sich diese erste Funkzellenauswertung auch auf andere Stadtteile als die Dresdener Südvorstadt erstreckte. Ursprünglich sollte die Datenerhebung zur Aufklärung von 23 Fällen von schwerem Landfriedensbruch dienen. Die Ministerien bestätigten jetzt aber, dass die Staatsanwaltschaft Dresden in 45 Fällen die Auswertung von Funkdaten durch die Polizei untersagt hat. Bei ihnen ging es lediglich um Blockaden einer genehmigten Demo von Nazis. Für Innenminister Markus Ulbig (CDU) ist die Ermittlung und Speicherung von über einer Millionen Daten dennoch "verhältnismäßig".
Ministerpräsident Tillich kniff am Freitag und stellte sich nicht den Fragen der Journalisten. In einer Stellungnahme übte er aber Kritik an Justiz- und Innenministerium. Er habe beide Minister gebeten, "Berichtspflichten zu optimieren". Die Daten hätten zudem nicht bei Verstößen gegen das Versammlungsgesetz verwendet werden dürfen. Die Landesregierung tritt jetzt die Flucht nach vorne an. Mit einer Bundesratsinitiative will sie den unklaren Rechtsbegriff der "erheblichen Straftat" nach Paragraf 100 g der Strafprozessordnung präzisieren, der eine solche umfangreiche Datenerfassung rechtfertigte.
Johannes Lichdi, rechtspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion in Sachsen, zeigte sich am Freitag enttäuscht über die Stellungnahme der Regierung. "Ich hätte eine Entschuldigung zu diesem massiven Datenmissbrauch erwartet", sagte er der taz. Zudem wirft er den Ministern vor, in dem Bericht an einigen Stellen die Unwahrheit zu sagen. Lichdi: "Das Schlimme ist aber, dass die sächsischen Behörden keine Konsequenzen für sich aus dem Fall ziehen."
Mittlerweile erreicht die Dresdner Datensammelwut auch die Bundespolitik. So wird die Bundestagsfraktion der Grünen am Dienstag eine Kleine Anfrage einreichen. Darin wird die Regierung aufgefordert, zur Handyüberwachung in Dresden Stellung zu nehmen. Zudem will die Grünen-Fraktion wissen, ob die Regierung "gesetzgeberischen Änderungsbedarf" sieht.
Am Mittwoch muss die Regierung auf Antrag des Grünen-Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz bei der Regierungsbefragung zur Verhältnismäßigkeit und Speicherung von Handydaten Stellung nehmen. Von Notz verbindet den Datenskandal mit der aktuellen Debatte über die Vorratsdatenspeicherung. "Die Funkzellenauslesung von Dresden sollte allen zur Mahnung dienen, Verkehrsdaten nicht noch länger und auch noch gesetzlich verpflichtend anzuhäufen", sagte er der taz.
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