Gesichtserkennung in Berlin: Catwalk des Innenministeriums
Am Bahnhof Berlin-Südkreuz läuft das Pilotprojekt für Überwachung mit Gesichtserkennung. Für unbeteiligte Pendler wird das skurril.
Es ist voll am Südkreuz, bis zu Hunderttausend pendeln jeden Tag über den drittgrößten Bahnhof der Hauptstadt. Dabei lässt es sich, unter dem Glasdach, in der Mittagshitze dort weniger gut aushalten. Wer dieser Tage den Eingangsbereich des Bahnhofs passiert, wird jedenfalls auf Merkwürdiges stoßen. Markierungen auf dem Boden trennen ab sofort die Menschenmassen: in Blau und Weiß – Sicherheitsfanatiker und Freiheitskämpfer.
Wer den blauen Markierungen folgt, lässt sich von nun an filmen. Zugegeben, das ist längst Standard an den Bahnhöfen Berlins. Neu ist die integrierte Gesichtserkennung der Kameras. Jedes Gesicht wird von einer Software ausgewertet, mit dem Pilotprojekt will das Innenministerium den Stand der Technik prüfen.
Über den Testzeitraum gehen freiwillig Registrierte auf ihrem Weg zur Arbeit brav den blauen Pfad entlang – quasi als Vorkämpfer für mehr Sicherheit. Na gut, vielleicht machen sie es auch nur wegen des Amazon-Gutscheins, der jedem Helfer winkt. Alle anderen Blauwandler werden mitgescannt, aber – so es die Technik will – nicht mitgezählt.
Bleibt der weiße Pfad für die Skeptiker und Ewiggestrigen? Wer nicht Teil von Thomas de Mazières neuestem Filmprojekt werden möchte, kann jedenfalls diesem Weg folgen und wird nicht erfasst. Spätestens für die Nutzer der Rolltreppen wird das Ganze zum Gewissenskampf: Die Rolltreppe nach unten ist für die Fotomodels und Terrorbekämpfer reserviert.
Resignation beim Thema Datenschutz
Blauen und weißen Pfad könnte man als „nette Geste“ des Innenministeriums betrachten. Die Realität zeigt, wie egal den Menschen die Markierungen sind. Die Blicke der Passanten, die unter Zeitdruck zur Bahn hetzen, gehen fast nie zu Boden. Blauer und weißer Pfad werden willkürlich gekreuzt. „Ich nehme doch jetzt nicht den weißen Weg, um nicht gefilmt zu werden“, sagt einer. Die angebliche Wahl sei gar keine: „Wenn nicht hier, werde ich woanders gefilmt.“
Wie so oft, wenn es um Datenschutz geht, macht sich anstatt Widerwille eher Resignation breit. „Was haben denn die Datenschutzbeauftragten überhaupt zu melden in der Politik?“, fragt eine Frau, die am Bahnsteig steht. Mit der steigenden Überwachung scheinen sich viele schon abgefunden zu haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen