Gesellschaftsroman über Angola: Die Unmöglichkeit zu vergessen
José Eduardo Agualusa erzählt das Leben einer Frau während Angolas Unabhängigkeitskampf. Sein Roman beruht auf einer wahren Begebenheit.
Es gibt dieses Alter, so zwischen vier und sechs, da fängt man an, Erinnerungen abzuspeichern. Man wird sich des eigenen Gedächtnisvermögens bewusst und bemerkt zugleich, dass man Erlebtes auch manchmal wieder vergisst. Die Geschichte, wie es zu der kleinen Narbe am Kinn kam, zum Beispiel. Wenn dann mal etwas Unangenehmes passiert, ob selbst verschuldet oder nicht, hegt man vielleicht sogar kurz die tröstliche Hoffnung, es bald wieder vergessen zu können. In José Eduardo Agualusas neuem Roman, „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“, wird aus dieser Hoffnung nichts.
Ludovica Fernandes Mano, die Protagonistin des angolanischen Schriftstellers, leidet unter Agoraphobie – oder der Angst, sich unter freiem Himmel aufzuhalten. „Ludo“ verlässt im Laufe der Geschichte nur ein einziges Mal das Haus: Nach dem Tod ihrer Eltern wandert sie aus ihrer portugiesischen Heimatstadt Aveiro zu ihrer Schwester Odete ins entfernte Angola aus.
Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft ist das Land an der südwestlichen Küste Afrikas noch eine Kolonie. Als dann 1974 die Nelkenrevolution zum Sturz der in Portugal herrschenden Diktatur führt, bahnt sich die lang ersehnte Unabhängigkeit an. Am Vorabend der Revolution hört Ludo, wie Menschen auf den Straßen Luandas skandieren: „Nieder mit 500 Jahren Unterdrückung!“, während andere die Aufbruchstimmung nutzen, um die Häuser der in Eile nach Portugal oder Brasilien geflüchteten Elite zu plündern.
Auch Ludos Schwester und deren Ehemann sind seit einiger Zeit verschollen, als sie in der einsamen Wohnung von einem Einbrecher überrascht wird – und ihn in Notwehr erschießt. Panisch begräbt sie die Leiche im Blumenbeet auf der Terrasse und mauert sich im elften und obersten Stockwerk des Hauses ein. So verschwindet sie, für 28 Jahre – genauso lange wie die blutigen Bürgerkriege dauern, die zwischen 1975 und 2002 das Leben von einer Million AngolanerInnen kosten und die Flucht von weiteren 4 Millionen verursachen sollten.
Ludovica Fernandes Mano hat es wirklich gegeben, erfährt man in der Einleitung des Buches. 2010 sei sie im Alter von 85 Jahren verstorben. Agualusas Roman basiert auf den Tagebüchern, die sie in ihrer Abgeschiedenheit führte, sowie auf Fotografien ihrer Kohlezeichnungen und Textfragmente, die an den Wänden ihrer Wohnung gefunden wurden. Der Rest sei reine Fiktion, schreibt Agualusa.
Wie sich das Land allmählich politisch wandelt, bekommt Ludo durch ihr Radio mit, wie es schrittweise verfällt, merkt sie an den immer häufigeren Strom- und Wasserausfällen. Als sie das allmähliche Verschwinden aller Hunde und Vögel von ihrer Terrasse aus beobachtet, überlässt sie dem Leser die grausame Schlussfolgerung: Angola erlebte im Zuge der anhaltenden Konflikte schwerste Hungersnöte.
José Eduardo Agualusa: „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“. Aus dem angolanischen Portugiesisch von Michael Kegler. C.H. Beck, München 2017, 197 Seiten, 19,95 Euro.
Die Not der Kriegsjahre vermittelt der Roman überaus bildhaft durch Ludos Improvisationstalent, das sie aus blankem Überlebenswillen alles um sich herum zweckentfremden lässt: Das Parkett wird zu Brennholz, die Briefmarkenlupe zum Feuerzeug. Nur mit den Diamanten, die Ludos Schwager in seiner Matratze versteckt hielt, kann sie zunächst nichts anfangen – eine Metapher für Angolas ausufernde Bodenschätze, von deren Reichtum die Bevölkerung ausgeschlossen ist. Von Hunger getrieben, benutzt Ludo die funkelnden Steine, um letzte vorbeifliegende Tauben anzulocken.
Ursprünglich erhielt Agualusa den Auftrag, auf Ludos Schicksal basierend ein Drehbuch zu schreiben. Auch wenn aus dem Filmprojekt letztlich nichts wurde, so lässt sich seine Romanfassung vom Aufbau her mit Robert Altmans „Short Cuts“ vergleichen: In etlichen Kapiteln des Buches verlässt Agualusa die Isolation seiner Protagonistin und widmet sich Momentaufnahmen aus dem Alltag verschiedenster Figuren, deren Wege sich gelegentlich kreuzen. So wie Altman ein vielschichtiges Porträt von Los Angeles der frühen 90er gelang, zeichnet Agualusa das der angolanischen Gesellschaft der Bürgerkriegsjahre.
Da begegnet man unter anderen einem kongolesischen Sänger im Exil samt seinem talentierten Nilpferd; einem jungen Rebellen, der sich zum reichen Entrepreneur mausert; einem Exagenten der Staatssicherheit, der davon träumt, die Erinnerung an sich und seine Verbrechen löschen zu können; verwahrlosten Straßenkindern, die Kuduro tanzen; einem Journalisten, der Vermisstenfälle dokumentiert; Vertretern des verdrängten indigenen Volks der Kuvale; wie auch der 1992 verschollenen Poetin Lídia do Carmo Ferreira, die Agualusa bereits 1996 zur Protagonistin seines viel beachteten Romans „Estação das Chuvas“ (Regenzeit) machte. Das in seiner Heimat umstrittene Buch und Agualusas in der Folge angespannte Beziehung zur dortigen Elite zwangen ihn, einige Jahre außerhalb Angolas zu verbringen.
40 Jahre Deutscher Herbst: Am 5. September 1977 entführten RAF-Terroristen Hanns Martin Schleyer, um ihre Führungsspitze freizupressen, die in Stammheim inhaftiert war. 91 Geiseln kamen hinzu, als die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt wurde. Die Bundesregierung zeigte sich unbeugsam, Schleyer wurde ermordet, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe nahmen sich das Leben. Zeitzeugen und Nachgeborene rechnen mit der RAF ab – auf 14 Seiten. Am Samstag am Kiosk, im eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
In seinem neuen Roman kehrt Agualusa nun erneut in sein Geburtsland zurück und verhandelt äußerst humor- und liebevoll dessen intime und kollektive Tragödien – wobei er trotz aller spielerischen poetischen Realität keinen Handlungsstrang fallen lässt oder unaufgeklärt lässt. So sucht die eigene Vergangenheit auch schließlich Ludo heim, die im Chor mit den übrigen Figuren des Romans reichlich Raum und Zeit hatte, das Vergessen in all seinen Facetten durchzudeklinieren: vom Verdrängen über das Entschwinden bis hin zur Vergebung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!