Gesellschaft: Blockaden, Aussperrung, Aufruhr
Es war eine aufgeheizte Stimmung, als vor 40 Jahren Zigtausende in der Metall- und in der Druckindustrie wochenlang die Arbeit niederlegten. Für 35 statt 40 Stunden Arbeit in der Woche. Ein Machtkampf inmitten von Massenarbeitslosigkeit.
Von Gesa von Leesen
Die Zeiten stehen auf Arbeitszeitverkürzung. Die GDL hat für Lokführer:innen die 35-Stunden-Woche eingeleitet, Verdi für kommunale Busfahrer:innen in Baden-Württemberg die 37,5-Stunden-Woche. Die Idee, mehr Zeit fürs Privatleben zu haben, ist einerseits populär, andererseits stets schwerst umkämpft. In der jüngeren Geschichte ist vor allem der Kampf um die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie in die Erinnerung eingegangen. Vor 40 Jahren wurde gut sechs Wochen lang für die Arbeitszeitverkürzung gestreikt. Dass nicht nur Metaller:innen die Arbeit niederlegten, sondern auch Drucker:innen, wird oft vergessen. Dabei haben sie noch länger – 13 Wochen – die Arbeit verweigert.
Uwe Kreft war damals Jungarbeiter. 1979 ging er in die Lehre zum Schriftsetzer. „Ich habe noch in Blei gelernt“, erzählt er – obwohl das auch damals nicht mehr zur Anwendung kam. Bei der J.F. Bofinger KG, die den Gränzboten in Tuttlingen produzierte, einen Ableger der „Schwäbischen Zeitung“, schaffte er als Drucker. Rund 100 Kolleg:innen arbeiteten in der Redaktion, Rotation, Druck, Versand. Wie fast alle im Betrieb war er Gewerkschaftsmitglied, damals noch in der IG Druck und Papier (die später in der IG Medien aufging und noch später in Verdi). „Bei der Einstellung wurde einem auch die Eintrittserklärung für die Gewerkschaft zugeschoben.“ Außerdem war Krefts Mutter im selben Betrieb Betriebsrätin, also hieß es ab 12. April 1984: Raus vors Tor! Streik.
„Das war alles brutal spannend für mich“, erinnert sich Kreft in seinem Verdi-Büro in Stuttgart. Wer streikt mit, wer nicht? Halten alle durch? Es wurde stundenlang diskutiert – am Tor, abends in der Kneipe. Und wer nicht mitmachte? „Da gingen Freundschaften in die Brüche.“ Einerseits. Andererseits entstanden neue, teilweise fürs ganze Leben, erzählt er. Gemeinsames Kämpfen schweißt eben zusammen, auch weil es ziemlich anstrengend ist. „Es gab immer etwas zu tun. Treffen im Gewerkschaftshaus, den nächsten Tag planen, Streikposten einteilen.“ Wie blockiert man die Zeitungsauslieferung? Wie verhält man sich, wenn die Polizei kommt? All das musste gelernt werden.
Die Stimmung außerhalb des Betriebs nahm Kreft im Großen und Ganzen als verständnisvoll wahr. „Aber klar, bei Demos gab es auch mal Sprüche wie ‚Geh arbeiten, du Penner‘.“ Mitte der 80er war die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik hoch: 9,1 Prozent. In der Druckindustrie kam ein Technologieschub dazu. Die Angst davor, die Arbeit zu verlieren, war groß. Wie dagegen angegangen werden könnte, wurde seit Jahren in den Gewerkschaften diskutiert. Mit der Arbeitszeitverkürzung sollte die Arbeit auf mehr Schultern verteilt werden.
Weniger Arbeit für die Einzelnen und damit Arbeitslosigkeit bekämpfen – die Idee hat ihren Charme. Bis heute bekannt ist das damalige Logo: die lachende Sonne mit der 35. Trotz der einleuchtenden Idee war auch innerhalb der Gewerkschaften der Arbeitskampf umstritten, nicht alle Mitglieder fanden die Forderung gut. Dazu mag auch die Gegenpropaganda beigetragen haben. „Lieber eine Woche Streik als eine Minute Arbeitszeitverkürzung“, lautete ein viel zitierter Ausspruch des damaligen Gesamtmetallchefs Dieter Kirchner. Und die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Helmut Kohl war alles andere als gewerkschaftsfreundlich. In Großbritannien bekämpfte Tory-Premierministerin Margaret Thatcher zu der Zeit die Bergarbeiter, die gegen die Schließungen ihrer Minen streikten. Vergeblich: Nach einem Jahr mussten sie sich geschlagen geben. Der gesellschaftliche Wind wehte eher neoliberal und in Deutschland wurden konservative Kräfte und Zeitungen nicht müde, den Bankrott des Landes vorherzusagen, wenn die Gewerkschaften sich nicht zurückhielten.
In der IG Metall und in der IG Druck und Papier (Drupa) verhandelten damals starke Funktionäre (keine Frauen) mit den jeweiligen Arbeitgeberverbänden: bei der Drupa Erwin Ferlemann und Detlef Hensche, bei der IG Metall Hans Mayr und Franz Steinkühler. Nachdem wochenlang am Verhandlungstisch kein Vorankommen möglich war, wurden die Urabstimmungen über unbefristeten Streik abgehalten.
Die Arbeitgeber schlagen zurück und sperren aus
Einen Tag nach den Drucker:innen begann am 14. Mai der Streik im Tarifgebiet Nordwürttemberg/Nordbaden. In 14 Automobilzuliefer-Firmen legten 13.000 Metallerinnen und Metaller die Arbeit nieder. Am 21. Mai kamen neun hessische Autobetriebe dazu. Auf dem Höhepunkt streikten 57.000 IG-Metall-Mitglieder. “Wir hatten in Heilbronn zwei Betriebe, die mitstreikten, Kolbenschmidt und Kaco“, erzählt Heidi Scharf. Sie war damals Gewerkschaftssekretärin bei der IG Metall in Heilbronn. „Wir haben die Autozulieferer bestreikt, das trifft dann die Autoindustrie bundesweit. Mini-Max, minimaler Aufwand, maximale Auswirkung, hieß die Strategie. Audi hat dann später ausgesperrt.“ Denn die Arbeitgeber schlugen zurück. In zwei Wellen organisierten sie Aussperrungen. Insgesamt waren nach Unternehmerangaben bundesweit über eine halbe Million Metallarbeiter:innen von Abwehraussperrungen betroffen. Dabei geht es um Macht und ums Geld. Wer aussperrt, zahlt keinen Lohn – stattdessen zahlen die Gewerkschaften ihren Mitgliedern Streikgeld. Bei massenhafter Aussperrung kann die Gewerkschaft also schnell in finanzielle Schwierigkeiten kommen. In dem wochenlangen Streik für die 35-Stunden-Woche kam hinzu, dass bis dato die Arbeitsämter Kurzarbeitergeld an Ausgesperrte zahlten, deren Betrieb wegen Streikauswirkungen stillstand. Doch unter Kohl und Norbert Blüm (CDU), der damals Arbeitsminister war, weigerte sich der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Georg Franke, zu zahlen. Ein Schlag für die Ausgeperrten. Die IG Metall klagte und das Bundesarbeitsgericht kassierte den Franke-Erlass wieder. Zwei Jahre später änderte die schwarz-gelbe Regierung das entsprechende Gesetz: Kurzarbeitergeld für Ausgesperrte gibt es seitdem nicht mehr.
Ein Aufbruch für Metallerinnen
Heidi Scharf, seit acht Jahren im Ruhestand, lebt nun im Rems-Murr-Kreis. Sie sitzt in ihrer heimischen Essecke, auf dem Tisch stapeln sich die Papiere über den damaligen Arbeitskampf. Als aktive Linke ist sie im Organisationsteam für eine Ausstellung und eine Tagung über den Streik von 1984. Sie zeigt Fotos von damals. In schwarz-weiß sind vor allem Frauen mit Transparenten zu sehen. Jede Nacht sei sie damals aufgestanden, um mit dem LKW Brötchen und Tee bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO) zu holen, erzählt Scharf. „Ich habe die Streikposten abgeklappert, Essen verteilt, gehört, wie es läuft. Wir sorgten für Zelte – es war relativ kalt –, es wurde gegrillt, es gab Musik.“
Als Audi Heilbronn die Arbeiter:innen aussperrte, erhöhte das die Wut auf die Arbeitgeber. „Jetzt erst recht“ sei eine häufige Reaktion gewesen. Und als bei den (Auto-)Filterwerken in Lorch der Chef die Beschäftigten aussperren wollte, besetzten die das Werk. „Da waren sehr viele Frauen dabei“, erinnert sich Scharf und lächelt. Überhaupt hätte der Arbeitskampf die Frauen in der IG Metall gestärkt. „Wir hatten einen riesigen Transparent-Wurm gebastelt und bemalt, der kam auf Kundgebungen und Demos gut an.“ Der Slogan lautete „Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen“. Vor dem Streik war es auch um die mögliche Verkürzung der Lebensarbeitszeit gegangen. Das war für die Frauen nichts. „Frauen brauchten mehr Zeit am Tag“, sagt Scharf. Schließlich mussten viele von ihnen nach der Arbeit noch den Haushalt, die Kinder und eventuell den Partner versorgen. Früher in Rente zu gehen, hätte ihre Situation nicht verändert. Scharf erlebte die Frauen als sehr engagiert und so manche traute sich nach dem Streik erstmals für den Betriebsrat oder als Vertrauensfrau zu kandidieren.
Die IG Metall hört auf, Drucker:innen streiken weiter
Nach vielen ergebnislosen, parallel laufenden Verhandlungen kam es schließlich zur Schlichtung für die Metaller:innen. Am 20. Juni lag der Leberkompromiss, benannt nach dem Gewerkschafter und Schlichtungsführer Georg Leber, vor: stufenweiser Einstieg in die 35-Stunden-Woche, zunächst mit 38,5. Allerdings nicht für alle, sondern im Schnitt im Betrieb. Was von der IG Metall-Führung als Erfolg verkauft wurde, kam an der Basis nicht besonders gut an, erinnert sich Heidi Scharf. „Leberkäs nannten viele den Kompromiss damals.“ In den Großen Tarikommissionen von Nordwürttemberg/Nordbaden und Hessen wurde der Kompromiss mehrheitlich angenommen, in der abschließenden Urabstimmung der Mitglieder billigten allerdings gerade mal 54 beziehungsweise 52 Prozent den ausgehandelten Abschluss.
Die Drucker:innen lehnten den Leberkompromiss ab und streikten weiter. Hier war die Stimmung von Anfang an besonders aufgeheizt, es gab sogar Verletzte. Am 3. Mai fährt der Fahrer einer Zeitungsvertriebsfirma vor dem Verlagsgebäude der „Offenbach Post“ in eine Gruppe von Streikposten. Sechs der Kollegen werden verletzt. Der Stuttgarter Bezirksvorsitzende der IG Druck und Papier, Horst Bekel, am 18. Mai 1984 von einem Lkw überfahren und lebensgefährlich verletzt. In Lüdenscheid raste der Verlagsleiter der „Lüdenscheider Nachrichten“ mit seinem Auto auf Streikposten zu. Bis zum 6. Juli hielten die Drucker:innen durch, dann lag auch für sie ein Schlichtungsergebnis auf dem Tisch. Bei vollem Lohnausgleich wurde die Wochenarbeitszeit für alle auf 38,5 Stunden verkürzt. Auch hier also ein Einstieg, vollständig umgesetzt wurde die 35-Stunden-Woche wie in der westdeutschen Metallindustrie erst 1995.
War‘s ein Erfolg? „Am Ende hat das Kapital zurückgeschlagen“, sagt Uwe Kreft. Mit dem Einzug neuer Technik verfiel „der Stolz, ein Jünger Gutenbergs zu sein“. Fotosatz und modernere Druckmaschinen hatten schon während des Streiks dafür gesorgt, dass die Tageszeitungen in der Regel erscheinen konnten. „Denn noch nie haben Redakteure, die für die Forderung nach der 35-Stunden-Woche (...) offensichtlich wenig oder gar kein Verständnis aufbrachten, so viel Streikbrecherarbeit geleistet wie diesmal“, schrieb die „Zeit“ im Juli 1984. Und nach dem Streik sei zur technischen Revolution noch die gesamte Palette der klassischen Restrukturierung gekommen: also Personalabbau, Arbeitsverdichtung, Auslagerung von Betriebsteilen, sagt Kreft. Dennoch: Der Arbeitskampf habe ihn geprägt, gezeigt, dass gemeinsam etwas erreicht werden kann. 1993 wurde er hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär, arbeitet heute bei Verdi in Stuttgart und findet die Debatte um die Vier-Tage-Woche sehr spannend. Allerdings nur, wenn die jetztige Arbeitszeit nicht in vier Tage gepresst würde. „Wir wollen doch Leben und Arbeiten so hinbekommen, dass alle etwas davon haben.“
Da ist er sich mit Heidi Scharf einig. Die Metallerin ist überzeugt, die Vier-Tage-Woche kann funktionieren und sie wünscht sich, dass ihre Gewerkschaft sich wieder mehr in gesellschaftspolitische Debatten einmischt und sich weniger auf ausgleichende Sozialpartnerschaft beruft. „Die laufende Transformation schreit doch geradezu danach, das Thema Arbeitszeitverkürzung hochzuziehen.“
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