Gesellschaft: „Oh shit, Frau Schmidt“
Ihr Platz ist zwischen allen Stühlen: Halima Gutale, Vorsitzende von Pro Asyl, SPD-Mitglied und Feministin, vor 30 Jahren aus Somalia geflohen. Ein Gespräch nicht nur zum Frauentag.
Von Susanne Stiefel(Interview)↓
Ihr Büro im Stadthaus in Pfungstadt ist definitiv zu klein für ein Gespräch samt Fotografen. Zu viele Bücher, zu viel Spielzeug, zu viele gelagerte Plakate. Hier arbeitet die 45-Jährige als Integrationsbeauftragte. Also ab in den Konferenzsaal, was sich als gut gewählt erweist, weil Halima Gutale sehr lebendig und präsent ist. Mit klaren Worten, denen ihre Hände Flügel verleihen. Sie freut sich über eine Einladung ins Kanzleramt zum Internationalen Frauentag, wo der Dreiklang Frauen – Flucht – Diaspora auf der Tagesordnung steht. Das ist nicht nur ihr Thema. Das ist auch ihre ganz persönliche Geschichte.
Frau Gutale, mit welcher Erwartung sind Sie nach Berlin gereist? Gibt es etwas, das Sie unbedingt loswerden wollten?
Ich gehe nie mit einer Erwartung irgendwohin. Ich gehe einfach hin und reagiere. Es ist doch wunderbar, dass endlich mal jemand mit dieser weiten Perspektive auf den Internationalen Frauentag schaut. Frauen mit Fluchtgeschichte wie ich standen bisher wenig im Fokus dieses Tages. Wir dürfen gerne leckeres Essen mitbringen, damit der Tisch multikulti gedeckt ist, in der Rolle sieht man uns gerne. Aber Feminismus ist nicht nur weiß, christlich und wohlhabend. Ich bin Feministin, aber ich habe einen somalischen Hintergrund, eine Fluchtgeschichte und eine neue und eine alte Heimat. Und damit bin ich nicht die einzige Frau in Deutschland. Das war so motivierend und beeindruckend, wie viele internationale Frauen im Kanzleramt waren.
Ist der 8. März in Deutschland also verengt auf einen kleinen Ausschnitt der Welt? Oder gar routiniert erstarrt und damit überflüssig?
Die Welt kämpferischer Frauen ist jedenfalls vielfältiger, als Alice Schwarzer das denkt. Ich kritisiere die Integrationsmöglichkeiten innerhalb dieser feministischen Gruppe. Der Kampf um Frauenrechte braucht verschiedene Perspektiven. Ich komme aus Somalia, ich weiß, was FGM ...
... Female Genital Mutilation, übersetzt weibliche Genitalverstümmelung ...
... bedeutet, weil dort 90 Prozent der Frauen beschnitten sind. Ich brauche keine weiße Frau, die mich belehrt, wie ich mich zu fühlen habe. Ich möchte wahrgenommen werden, dann können wir diskutieren, und zwar auf Augenhöhe. Überflüssig? Nein, wir brauchen noch mehr Feministinnen, aber wir brauchen einen weiteren Blick. Was wir nicht brauchen, ist eine deutsche Frau, die einer afghanischen Frau mit Blick auf ihr Kopftuch sagt, du bist noch nicht so weit. Mein somalisches Ich, die somalische Halima, kämpft auch gegen die bekloppten Islamisten, die dort die Frauenrechte zurückgedreht haben. Gerade steht im Mogadischu ein Mann vor Gericht, der seine schwangere Frau verbrannt hat und nun plädiert, dass eine Frau ja weniger wert ist. Er muss hart bestraft werden, dafür setze ich mich ein.
Vor fast 30 Jahren sind Sie als unbegleitete Minderjährige nach Deutschland gekommen, Sie haben sich in der neuen Heimat als 15-Jährige alleine durchgeschlagen, haben sich gegen Widerstände Bildung und einen Beruf erkämpft.
Als ich zur Berufsberatung ging, hat mir eine Frau Schmidt erzählt, dass ich keine Chance habe. „Oh shit, Frau Schmidt“ ist seitdem mein Lieblingslied. Meine Freundin war weiß, sie wurde ausführlich beraten, das ist Rassismus. Ja, ich weiß, was Ausgrenzung und Verletzung von Menschenrechten bedeutet. Menschen wie ich kennen zwei Wahrheiten, leben in zwei Realitäten. Ich nehme das Beste aus meiner deutschen und meiner somalischen Heimat. Ich empfinde das als Bereicherung. Aber dafür muss man stark sein, weil man immer zwischen zwei Stühlen sitzt.
Sie haben als Integrationsbeauftragte in Pfungstadt durchgesetzt, dass bei Kontoeröffnungen und bei Mietverträgen der Name der Frau drunter steht. Warum ist es wichtig, die Frauen unter den Geflüchteten genauer zu betrachten?
Wer die alte Heimat verliert und eine neue Heimat sucht, hat einiges erlebt. Deshalb weiß ich, was geflüchtete Frauen brauchen. Und dazu muss ich nicht den Mann oder die Frau belehren, dass hier Frauenrechte gelten. Da werden Mietverträge und Konten eben von beiden unterschrieben, fertig. So ist das in Pfungstadt, das sind die Regeln hier. Aber es braucht eben auch eine Sensibilität für die Menschen, die hier ankommen.
Sie sprechen von Regeln. Über Rechte, aber vor allem Pflichten von Geflüchteten wird ja viel diskutiert in Deutschland.
Darüber können wir gerne reden, über die Pflicht, deutsch zu lernen, aber bitte auch über die Rahmenbedingungen für Integration. Reden wir mal über Sensibilität. Ein Beispiel: Ich hörte von einer Frau in einer Flüchtlingseinrichtung in einer benachbarten Stadt, sie drehe regelmäßig durch, störe, sei aggressiv, die Betreuer wollen sie einliefern. Da hab ich angerufen und gesagt: So geht das nicht. Oh Gott, da ist die Frau Gutale wieder dran, haben sie gestöhnt. Ich hab die Frau vier Monate lang in Pfungstadt beobachtet. Jeden Monat zur gleichen Zeit war die Frau laut, launisch, aggressiv. Das sagte mir, sie ist beschnitten, sie war so verschlossen, dass sie nicht menstruieren konnte und wahnsinnige Schmerzen hatte. Ich hab einen Termin beim Gynäkologen ausgemacht, die Frau wurde geöffnet, heute lebt sie in Darmstadt und hat zwei Kinder und keine Probleme mehr. Da geht es nicht um belehren oder wer hat recht: Da geht es um Menschlichkeit, um Hintergrundwissen und um miteinander reden. Ich glaube nicht, dass es noch jemanden gibt, der so viel Tee trinkt wie ich.
Seit Jahrzehnten leben Sie nun in Deutschland, haben vier Kinder großgezogen, sind politisch engagiert, ehrenamtlich unterwegs und beruflich erfolgreich. Was bedeutet Integration für Sie?
Es gibt hier längst eine Generation von Migrant:innen, die sich wie ich zugehörig fühlen in Deutschland, die nicht mehr warten wollen, dass man sie einlädt, die so unverschämt sind, sich selbst einzuladen und mitreden wollen. Das hier ist auch mein Land, ich will nicht toleriert werden, ich gehöre dazu. Und das ist noch nicht angekommen in der deutschen Gesellschaft. Jetzt wird endlich gestritten, und das freut mich, denn das heißt, dass sich etwas verändert. Denn die deutsche Gesellschaft sieht heute ganz anders aus.
In Deutschland leben 20 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte, davon zehn Millionen mit deutscher Staatsangehörigkeit wie Sie.
Das ist die Realität. Diese Gesellschaft will Integration, aber sie ist nicht bereit, etwas abzugeben. Alle wissen, den Kuchen müssen wir teilen, aber sie versuchen immer noch, das Rezept zu bestimmen. Und da kommt eine Migrantin wie Halima und sagt: Nönönö, ich will wissen, was für ein Kuchen hier gebacken wird und ich will sogar das Rezept mitbestimmen. Und da ist man dann schnell undankbar, arrogant, gierig. Aber ich muss nicht Everybody‘s Darling sein, ich muss meinen Job gut machen. Denn die Geflüchteten wollen die Veränderung mitbestimmen. Diese Leute sind längst integriert, sie wollen sich beteiligen, das muss nur zugelassen werden. Deutschland ist ein Einwanderungsland, wir reden von über 25 Prozent Menschen, denen kann man nicht mehr sagen, was sie zu tun haben. Denn sonst ziehen sie sich enttäuscht zurück und das darf nicht passieren.
Nach den „Correctiv“-Enthüllungen gehen seit Wochen in Deutschland Hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen Rassismus, gegen die AfD und für eine bunte Gesellschaft zu demonstrieren. Macht Ihnen das Mut?
Als schwarze Frau wundere ich mich, dass wir da erst jetzt draufkommen. Ich kann mich mit meinen Kindern, die hier geboren sind, nicht frei in Deutschland bewegen. Aber wenn wir über Rassismus, über No-Go-Areas gesprochen haben, hieß es oft, das gibt es doch nicht, du bist übersensibel. Viele Menschen wollen nicht wahrhaben, dass es das in Deutschland gibt. Aber meine Realität als schwarze Frau mit muslimischem Hintergrund, als Frau, die ihre Meinung sagt und auf ihre Rechte besteht, ist eine andere. Ich weiß, was unsere Migrantenfrauen, unsere Geflüchteten erzählen. Und ich frage mich, warum gehen jetzt plötzlich alle raus auf die Straße? Was bitteschön ist neu? Was in Hanau passiert ist, …
... der Mord an neun Menschen mit Migrationshintergund 2020 ...
... das konnte ich vorausschauend sagen, weil ich gesehen habe, wie man mit uns, wie Deutschland mit den Geflüchteten, mit Migranten umgeht. Ich sage schon lange, dass wir Deutschland verteidigen müssen gegen Rassisten und Rechtsextreme. Jetzt bin ich gespannt, was aus den derzeitigen Demonstrationen entsteht. Ich jedenfalls habe daraus gelernt, dass man als schwarze Frau, die schon lange Rassismus angesprochen hat, offensichtlich einen weißen Türöffner braucht, damit sich etwas bewegt.
Tatsächlich wusste man auch über die AfD und ihre Deportationspläne Bescheid, man musste nur hören und lesen, was Björn Höcke gesagt und geschrieben hat. Aber die visualisierte Form des Geheimtreffens, die breite Berichterstattung und die Reaktion der Politik war wohl der Funke, der die Leute auf die Straße trieb.
Mag sein, meine Erklärung ist eine andere: Jetzt ist es nicht mehr nur Frau Hamad oder Frau Ismael, die abgeschoben werden sollen. Jetzt ist es eben auch die Unterstützerin Frau Maier, die an die Demokratie glaubt. Denn nach den Geheimplänen soll es jetzt auch unbequeme Deutsche treffen. Wir wussten doch schon immer, dass die AfD rechtsextrem und rassistisch ist. Und wir haben schon lange die Diskussion über enttäuschte Bürger, die sich von der Politik abwenden. Aber alle haben nach unten geschaut, zu den Geflüchteten, den Bürgergeldempfängern, die sind dran schuld. Und da haben alle Parteien mitgemacht.
Auch Ihre Partei, die SPD, ist nicht unschuldig an dieser Verschiebung des Diskurses nach rechts. Etwa wenn der Kanzler auf einem Spiegeltitel verkündet, wir müssen im großen Stil abschieben.
Das ist schlimm. Wir haben hier einen Rechtsstaat, wir wissen, dass Abschiebung nicht so einfach geht, noch gilt hier das Asylrecht. Auch die anderen Parteien haben keine Antwort gehabt auf die sogenannte Flüchtlingskrise außer Bezahlkarte, Mauern an den Außengrenzen der EU bauen und mit Diktatoren Vereinbarungen treffen. Das sind Menschenrechtsverletzungen und keine Antwort auf die Rechten im Land.
Hat das SPD-Mitglied Halima Gutale schon mal über einen Parteiaustritt nachgedacht?
Immer wieder. Aber wenn Stimmen wie meine verstummen, wer bleibt dann übrig? Demokratie gestaltet sich nicht von selbst. Ich hoffe, dass die Gesellschaft jetzt aufgerüttelt ist, und es wieder Mehrheiten für eine Demokratie gibt, in der Integration und Menschenrechte nicht nur Wörter sind.
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