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GesellschaftLichtgestalt amMischpult

Schrill, laut, bunt: Elly Steiner ist wie ihre Beats, mit denen die 75-Jährige als DJ Elly junges Clubpublikum aufheizt. Und so hat sich die Stuttgarterin einen Namen gemacht: als älteste noch aktive DJ Deutschlands.

Seit gut 30 Jahren legt sie auf: die gut aufgelegte Elly Steiner (rechts) mit ihrer Ehefrau Meike. Fotos: Jens Volle

Von Franziska Mayr↓

Beim Stuttgarter Christopher Street Day im vergangenen Jahr war sie der letzte Act auf dem Schillerplatz. Wenn Elly Steiner davon erzählt, beginnt das Kopfkino: wie sie über der tanzenden Menge hinter ihren Turntables steht, die Hände in der Luft, ihr Körper bewegt sich im Takt der Musik, die feiernden Menschen und diese schmächtige, wilde Frau verschmelzen zu einer Einheit. Um 22 Uhr musste sie Schluss machen, doch die Leute wollten nicht aufhören. „Elly, Elly, Elly! Die haben geschriiien“, erzählt sie begeistert mit ihrer rauen Stimme und reißt die Arme in die Höhe.

Sie sitzt auf einer Bank in einem Park im Stuttgarter Süden, mit ihrem feuerroten Haar wie ein gut gelaunter Farbklecks im Grau dieses Winternachmittags. Neben ihr ihre Frau Meike und Hündin Rubin, die kleine Familie verleiht der Kälte etwas Warmes. Während Elly spricht, beugt sie sich nach vorne und streichelt Hündin Rubin. Dabei rutscht der Ärmel ihres schwarzen Pullovers hoch: Tattoos von Drachen, Kirschblüten und die goddess of grace – die einzige weibliche Buddha-Figur – zieren ihren Arm.

Die Musik ist ihre neue Droge

DJ Elly ist die älteste noch aktive DJ Deutschlands. Doch bis sie Anfang der 1990er-Jahre mit dem Auflegen begann, sollte einiges passieren: Ihre Arbeit als Lehrerin schmiss sie bald nach dem Studium und jobbte eine Zeit lang als Schlussredakteurin bei verschiedenen Verlagen. Ende der Achtzigerjahre habe sie nach langem Zögern „Mut gesammelt, Mut gesammelt, Mut gesammelt“ und sich endlich getraut zu fragen, ob sie im „Go West“ – damals eine Stuttgarter Frauendisco – auflegen dürfe. Schnell kam der Ball ins Rollen. Elly wurde Stamm-DJ im Club der LGBT-Aktivistin und Linken-Kommunalpolitikerin Laura Halding-Hoppenheit. Sie legte im Stuttgarter Gaytunnel, im Wildthing, bei der Frauendisco in der Stuttgarter Boa auf, später im Babylon, im Ulmer Roxy und Neu-Ulmer Big Ball. „Ich hab die Decks gerockt so oft und heiß wie möglich“, sagt Elly. Auch im Mannheimer T6: unten eine Disco, oben ein Sexclub. Das Publikum von oben sei immer wieder nach unten gekommen, erzählt sie begeistert, Menschen hätten sich auf der Tanzfläche die Klamotten vom Leib gerissen! „Das war der totale Hammer!“

Steht sie am Mischpult, verfällt sie in eine natürliche Ekstase. Das ist ihr „natural high“. Dabei grenzt es an ein kleines Wunder, dass sie heute noch hinter den Turntables steht. Als Jugendliche begann sie exzessiv zu trinken, nahm Drogen. „Alkohol, Schmerztabletten, Psychopharmaka, alles“, sagt sie und das einzige Mal im Gespräch wirkt ihre Stimme fragil, zerbrechlich. So ging das etwa 20 Jahre lang bis zum entscheidenden Moment – ihrem „Lichterlebnis“: Eines Nachts stand sie in ihrem Zimmer, trotz der Dunkelheit war es taghell, erzählt sie. Das Ganze dauerte keine zehn Sekunden und auf einem Schlag wurde ihr klar: „Elly, du musst alles ändern, sonst gehst du daran kaputt. Du gehst drauf.“ Für sie war das „wie eine göttliche Eingebung“.

Um dem Teufelskreis zu entkommen, bedurfte es sieben Jahre Therapie. Heute sagt sie mit Stolz: „Ich bin eine der wenigen, die immer ohne Drogen aufgelegt hat.“ Die Musik ist ihre Droge geworden.

In den 1990er-Jahren und zu einer Zeit, als Ellys gesamtes Geld für Schallplatten draufging, fing ihre Therapie an zu greifen, und Elly spürte: „Ich will frei sein.“ Sie machte den Taxiführerschein, und startete ihr eigenes Unternehmen. Ausgestattet mit einem Elektroschocker im Ablagefach der Fahrertür fuhr sie als eine der wenigen Frauen damals „ganz beschissene Mitfahrer“ durch das nächtliche Stuttgart. Drei Tage in der Woche war sie Taxifahrerin, am Wochenende DJ.

Ihre Begeisterung für die Musik habe ihr auch während der Therapie Heilung gebracht, berichtet sie. „Wenn du keinen Glauben hast, wirst du wieder rückfällig.“ Elly fand diesen haltgebenden Glauben im Buddhismus – denn „die Buddhisten haben die Seele im Kopf“, sagt sie. Sie legt ihre Stirn an die ihrer Frau Meike, mit geschlossenen Augen lächeln die beiden Frauen sich an. Der dänische Lama Ole Nydahl hat ihr einen buddhistischen Namen gegeben: „Juwel strahlendes Licht.“ Das passe gut, sagt Meike, „du strahlst ja schließlich.“

Ein künstlerisches Rundumpaket

Schon als Jugendliche ging Elly gerne in die Disco. Und dabei ganz nah an die DJs ran, „um zu schauen, wie die das machen“. Bald habe sie „geübt wie verrückt“, sagt die 75-Jährige, jeden Tag, denn „Übergänge und Beat-Matching sind das A und O, dass es nahtlos läuft“. Als „Vinyl-Junkie“ geoutet fand Elly besonders Gefallen an UK-Music: „Die ist so ein bisschen raw. Wie die Briten halt sind“, meint sie und schmunzelt. Auch heute legt sie mitunter am liebsten die aus Großbritannien stammende Musikrichtung Progressive House auf. Ansonsten dröhnen meist Funky House, Melodic House oder Chicago House, die Ur-Form der heutigen House Music, aus den Boxen, wenn DJ Elly am Mischpult steht.

Als eine Clubbesitzerin sie nicht mehr engagieren wollte, weil Elly auch in anderen Clubs auflegte, nahm sie das mit Gelassenheit und besuchte den Club für einige Jahre als Gast anstatt als DJ. Nachtragend ist sie nie. Keine Erwartungen haben, weil sich schlussendlich alles so ergibt, wie es sich ergeben muss – diesen Grundsatz habe sie von ihrem Vater gelernt.

Elly kommt aus einer Künstlerfamilie. Ihr Vater, Luis Steiner, hat die Stuttgarter Musikschule gegründet. Ihre Mutter war eine Pionierin der musikalischen Früherziehung und wurde damals nach Japan eingeladen, um ihr Programm vorzustellen. Wenn die beiden nachts lange als Kritiker:innen im Theater oder im Ballett saßen, kümmerte sich Elly am Morgen um das Frühstück für die sechs Geschwister. Ihr jüngerer Bruder Simon, dem Elly „Schwimmen und Schuhe binden beigebracht hat“, erinnert sich: „Sie war immer da und hat mir immer aus der Patsche geholfen, wenn ich Unsinn trieb.“ Gleichzeitig war sie sein „Tor in die Popmusik“. In den 1960er-Jahren habe Elly zu Hause einen Partykeller eingerichtet, erzählt er, mit „Kissen, Tanzfläche, Bildern von den Beatles und Rolling Stones aus der Zeitschrift BRAVO, Getränken und einem Plattenspieler“. Aufgelegt hat natürlich: DJ Elly.

Als Kind war sie ein „Zappelphilipp“, erzählt Elly, schlecht in der Schule, frech und widerspenstig. Nach dem Abi und dem Lehramtsstudium für die Grund- und Hauptschule hat sie ein paar Jahre unterrichtet. Am liebsten Kunst. Der US-Künstler Jackson Pollock habe ihr immer schon gut gefallen. Er arbeitete mit Drip Painting, wobei die Farbe auf die Leinwand getropft oder geschleudert wird. Ihre Schüler:innen sollten davon inspirierte Werke schaffen, denn „das ist einfach und dann kriegen alle eine gute Note“.

Elly malt selbst gerne, sie ist ein künstlerisches Rundumpaket. „Ihre Kreativität, ihre ausgeflippte expressive Malerei und ihr Eifer erscheinen mir noch heute grenzenlos“, sagt ihr Bruder. Auch äußerlich tobt sich die DJ aus: feuerrote Haare, kirschrote Lippen, weinroter Nagellack. Cooler lässiger Look mit Basecap und schwarzer Cordhose. „Für mich verkörpert Elly die ewige Jugend“, sagt die Stuttgarter Stadträtin und Clubbesitzerin Laura Halding-Hoppenheit über ihre langjährige Freundin. Dementsprechend komme sie in den Clubs bei den Jungen gut an. Ihr Publikum sei nicht mit ihr gealtert, sondern „forever young“, sagt Elly selbst.

Die menschenscheue Rampensau

Wenn‘s nicht laut wird, ist Hündin Rubin dabei.

Ende der 1980er-Jahre ließ sie sich von Halding-Hoppenheit die Tarotkarten legen. Und ihr wurde prophezeit: „Du bist noch lange nicht verliebt, aber dann kommt eine und die bleibt.“ „Und das war die Meike“, sagt Elly und tätschelt der Neurobiologin liebevoll das Bein. Trotz 19 Jahren Altersunterschied ließen sich die beiden verpartnern und später – sobald die Ehe für alle gesetzlich erlaubt war – standesamtlich verheiraten.

Elly nimmt ihre schwarze Sonnenbrille ab und blinzelt in die letzten Sonnenstrahlen dieses Spätnachmittags. Fast könnte man meinen, sie sei eine ganz gewöhnliche 75-Jährige. Das Alter hat sie nicht vollends verschont, mehrere OPs musste sie in letzter Zeit über sich ergehen lassen. Die Dreharbeiten für eine SWR-Doku im vergangenen Jahr haben ihr einiges abverlangt, solche Termine seien für sie eine wahre Herausforderung. „Ich bin menschenscheu“, kündigt sie bereits telefonisch vor dem Treffen mit Kontext an. Selbst nach 30 Jahren leide sie noch unter „stage fright“, Lampenfieber. Zur Beruhigung hört sie Meditationsmusik, wenige Stunden oder Minuten später schwelgt sie ekstatisch in ihren basslastigen, mächtigen House- und Techno-Klängen.

Wenn sie an ihre Entzugszeit zurückdenkt, erinnert sich Elly besonders gerne an eine Vortragsreihe, die sie damals besuchte. Vor allem an einen Satz: „Ihr seid alle Krieger des Lichts.“ Er ist ihr bis heute geblieben. „Das Licht ist die Quelle, aus der ich meine Energie nehme, meine Inspiration und meine Ideen.“ Der Finsternis gibt sie keine Chance. Und während sie dasitzt auf der Parkbank neben Meike, bricht langsam der Abend herein. Selbst in der Dämmerung leuchten Ellys Haare feuerrot.

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