Geschlechtertrennung in Israel: "Nicht mal die Sitzordnung verändert"
In Israel greift die religiös motivierte Geschlechtertrennung um sich. Und das, obwohl erst letzte Woche der oberste Gerichtshof entschied, dass dies "ungesetzlich" sei.
JERUSALEM taz | Zum ersten Mal in der Geschichte des Tel Aviver Auditoriums werden Männer und Frauen getrennt im Zuschauerraum sitzen, wenn der ultraorthodoxe Popsänger Janiv Ben Maschiach Anfang März auf die Bühne steigt. Bürgermeister Ron Huldai gab dem Anliegen des Künstlers nach, in dessen Konzerten gewöhnlich "Keuschheitswachen" aufpassen, dass sich sein Publikum den frommen Verhaltensregeln entsprechend verhält.
Die Männer dürfen das Konzert im Parkett hören, die Frauen müssen auf die oberen Ränge. Tamar Sandberg, die im Auftrag der linken Partei Meretz im Tel Aviver Stadtrat sitzt, protestierte vergeblich gegen das "chauvinistische und primitive Vorgehen" im Auditorium, das zu großen Teilen aus der Stadtkasse finanziert wird.
Erst letzte Woche hatte der Oberste Gerichtshof in Jerusalem entschieden, dass eine Geschlechtertrennung "ungesetzlich" sei. Die Richter bezogen sich auf den öffentlichen Nahverkehr. Jedem solle es selbst überlassen bleiben, so schränkten sie indes ein, ob er oder sie eine Geschlechtertrennung im öffentlichen Verkehr praktizieren will oder nicht. Ausgangspunkt für den Rechtsspruch war der Protest mehrerer Frauengruppen gegen die Praxis der "Mehadrin-Linien", Buslinien, die nach vermeintlich orthodoxen Regeln "koscher" sein sollen.
Die öffentlichen Verkehrsmittel bieten Konfliktpotenzial, weil sie eine der Bastionen darstellen, wo sich Männer und Frauen zwangsläufig begegnen. In Synagogen ist Geschlechtertrennung üblich, genauso wie an der Klagemauer, bei Hochzeiten und Beerdigungen. Auch an den Arbeitsplätzen, soweit die Männer nicht ohnehin in die Jeschiwa gehen, strebt die ultraorthodoxe Bevölkerung eine Geschlechtertrennung an.
Der über die Buslinien gefällte Rechtsspruch ist "parve", weder Milch noch Fleisch. Theoretisch haben zwar die Feministinnen und die Liberalen gewonnen, doch in der Praxis wird sich auf den Dutzenden Linien, die nahezu ausschließlich von ultraorthodoxen Passagieren genutzt werden, kaum etwas verändern. Die vorderen Türen und die vorderen Sitzreihen gehören dem starken Geschlecht. Frauen müssen durch den Hintereingang auf die hinteren Bänke. Wer sich widersetzt, bekommt sicher Ärger. Die Schilder mit der Aufschrift: "Jeder Fahrgast darf sitzen, wo er es selbst will", die auf Weisung der Richter angebracht werden müssen, sind deshalb pure Heuchelei.
"Hätten sie wenigstens die Sitzordnung verändert", kommentierte der ehemalige Erziehungsminister Jossi Sarid (Meretz), der findet, dass die Frauen vorne sitzen sollten, wenn schon Geschlechtertrennung praktiziert wird.
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