piwik no script img

Geschichtsschreibung in der UkraineDen Krieg von unten sehen

Ein Uni-Projekt in Lwiw sammelt Augenzeugenberichte in Russlands Angriffskrieg. Die Aufzeichnungen werden auf einer Plattform zusammengestellt.

Flüchtlinge im Kurbas Theater in Lviv Foto: Carol Guzy/imago

Luzk taz | In Lwiw werden Zeugenaussagen von Teilnehmern und Opfern des Krieges mit Russland gesammelt. Die Ukrainische Katholische Universität (UKU) in Lwiw hat das Freiwilligenprojekt „Kleine Geschichten des großen Krieges“ gestartet. Es geht um Geschichten derjenigen, die Bombardierungen durchlebt haben und sich von den Schrecken des Krieges erholen, Augenzeugenberichte über Kriegsverbrechen und den Schmerz des Verlustes. Die Idee entstand in den ersten Kriegstagen, als immer mehr Flüchtlinge aus dem Osten, Süden und dem Zentrum der Ukraine nach Lwiw kamen.

Die UKU versammelte eine Gruppe von Freiwilligen aus Lehrern, Arbeitern und Studenten, die damit begannen, die persönlichen Aussagen der Ukrai­ne­r*in­nen zu dokumentieren. Sie suchten in Notunterkünften, Bahnhöfen und Freiwilligenzentren nach Prot­ago­nis­t*in­nen. „Manchmal riefen Leute: ‚Frag mich nicht, es tut weh, sich zu erinnern‘, sagt die Studentin Natalja Stareprawo. Sie hat sich Dutzender dieser Geschichten angenommen.

Dem Team ist es gelungen, mehr als 100 Geschichten zu filmen, einige wurden in andere europäische Sprachen übersetzt. Das Projektteam arbeitet nicht nur in Lwiw, sondern reiste auch nach Irpin, Butscha, Kyjiw, Charkiw, Saporischschja und Odessa. „Wir konzentrieren uns auf die Mikrogeschichte, dokumentieren den Krieg ‚von unten‘. Anhand der Schicksale gewöhnlicher Menschen und ihrer Reaktionen richten wir unser Augenmerk vor allem auf die menschliche Dimension dieses Krieges“, sagt die Kuratorin des Projektes Elena Dschedschora. „Ihre Geschichten über das Leben im Krieg, ihre Gefühle und täglichen Aktivitäten, die einen kleinen Beitrag zum Sieg leisten, dürfen nicht verloren gehen“, sagt Dschedschora.

Die Erinnerungen müssten aufgezeichnet werden, denn die Taten der Russen deuteten auf einen Völkermord an den Ukrai­ne­r*in­nen hin, sagt Olesja Isajuk, Doktorin der Geschichtswissenschaft. Das Projekt sei eine große Datenbank mit vollständigen Originalinterviews, die eine Plattform für Historiker werden soll. „Darüber hinaus geht es um Dokumente, die dazu beitragen, Eu­ro­päe­r*in­nen zu erreichen, die sich oft Illusionen über den Moskauer Besatzer machen“, erläutert sie.

Vom Theater zur Notunterkunft

Eine Geschichte ist die von Natalia Rybka-Parhomenko. Sie stammt aus Charkiw, lebt jedoch seit 17 Jahren in Lwiw und arbeitet am Theater Les Kurbas. Die Frau berichtet, wie das Theater zwei Tage nach Kriegsbeginn zu einer Militärunterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert und die Schauspieler zu freiwilligen Helfern wurden. Sie sei hin- und hergerissen gewesen zwischen der Hilfe für Geflüchtete in Lwiw und der Sorge um ihre Eltern in Charkiw. Es habe Tage gegeben, an denen sie nur das Wort „Appell“ in den Messenger geschrieben und als Antwort erhalten habe: „Wir leben noch.“

Ein weiterer Protagonist ist Alexander Jabtschanka. Er ist Kinderarzt und zu Kriegsbeginn in den Krieg gezogen. Jetzt setzt er seine Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld ein: Er ist Sanitäter, Freiwilliger, Spendensammler, Luftaufklärer und Infanterist. Oder Iwanka Kripjakewitsch-Dimid: Ehefrau eines Priesters, Mutter von fünf Kindern, Freiwillige und Künstlerin. Ihre Geschichte ist die einer Frau, die ihr Kind im Krieg verloren hat. Ihr Beispiel hilft anderen Müttern, mit dem Schrecken des Verlustes umzugehen. Das Interview wurde am 5. Juli 2022 aufgezeichnet, 17 Tage nach dem Tod ihres Sohnes Artjem an der Front.

Unter den Geschichten sind auch solche, die mit später verstorbenen Menschen aufgezeichnet wurden. Dmitri Paschtschuk meldete sich freiwillig zum Krieg und kämpfte im Spezialeinsatzzentrum. „Der Franzose“ (sein Kampfname) befreite Cherson und glaubte an den Sieg, dachte aber stets an den hohen Preis, den das ukrainische Volk dafür zahlte. „Wir tragen jetzt ein Kreuz und es ist schwer, den Tod der besten Menschen zu akzeptieren. Aber diese Menschen verlassen uns nicht. Sie hinterlassen bedeutende Spuren“, sagte Paschtschuk in seinem Interview. Kurz darauf wurde er von einer Kamikadze-Drohne tödlich getroffen.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Geschichte aus der Froschperspektive sehe ich eher kritisch. Genauso wie Journalismus aus der Froschperspektive. So etwas gibt wunderbare Herz-Schmerz- und Gefühlsgeschichten ab. Aber für eine nüchterne Betrachtung der Verhältnisse und insbesondere der Zusammenhänge und Hintergründe ist es eher kontraproduktiv.