Geschichtenhungrig

In der „Bibliothek der ungelesenen Bücher“ archiviert Julius Deutschbauer ideelle Geschichten. Ein Interview  ■ Von Sven Tietgen

Der Österreicher Julius Deutschbauer ist einer von etwa 40 Künstlern, Wissenschaftlern und Archivaren, die sich vom 2. bis 6. September in den Hamburger Kammerspielen in der Filiale für Erinnerung auf Zeit über Erinnerungs- und Gedächtnisthematik unterhalten werden. Das Publikum kann die „talking heads“ per Video verfolgen oder sich persönlich mit den Gedächtniskünstlern auseinander setzen (taz berichtete).

Der in Wien lebende Deutschbauer wird in einem der geschichts-trächtigen Räume in der Hartungstraße eine „Bibliothek der ungelesenen Bücher“ installieren. Die taz sprach mit dem 38jährigen Künstler über sein Projekt.

taz hamburg: Was ist unter der „Bibliothek für ungelesene Bücher“ zu verstehen?

Julius Deutschbauer: Die Bib-liothek befindet sich in Wien, es ist eine Sammlung von etwa 200 Büchern, zum größten Teil Romane, die von bestimmten Leuten nicht gelesen wurden. Jedes Buch bekommt von mir auf dem Rücken einen Aufdruck, zum Beispiel „am 12.03.99 nicht gelesen von Hannah Lessing“. Einige Bücher wie zum Beispiel „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil sind mehrfach vertreten, weil einige Leute das gleiche Buch nicht gelesen haben.

Was heißt denn bei Ihnen „nicht gelesen“?

Die Bibliothek basiert auf Interviews, die ich mit Freunden, Schriftstellern und anderen Künstlern gemacht habe. Ich habe hierfür einen Fragenkatalog entwi-ckelt, mit dem ich die Interviews gestalte. Ich stelle Fragen wie „In welcher Gesellschaft befinden Sie sich in Ihrem ungelesenen Buch?“ oder „Wie sieht der Tisch aus, an dem Sie im Restaurant mit Ihrem Held aus dem ungelesenen Buch essen?“

Welchen Sinn hat das?

Mich interessiert die Erfindung; ich versuche mein Gegenüber mit den Fragen zu provozieren, eine Geschichte zum ungelesenen Buch zu erfinden. Das Interview dient sozusagen dazu, ein Buch ideell zu lesen.

Kann man sich die ungelesenen Bücher ausleihen?

Nein, es ist eine Präsenzbibliothek. Dazu veranstalte ich regelmäßig Lesezirkel unter dem Motto „Lesen und Handarbeiten“. Da kommen immer so an die zwanzig Leute, und es wird zu einem Thema gelesen. Dabei passe ich auf, dass die Leute wirklich lesen und nicht etwa über die Bücher reden. Oder zumindest einer Handarbeit nachgehen – jemand hat zum Beispiel eine Buchhülle gehäkelt.

Wie ist die Idee zur Bibliothek entstanden?

Ich bin geschichtenhungrig, geradezu romansüchtig. In Wien gibt es eine Präsenz-Bibliothek, die nur Werke hat, die sich mit Kunsttheorie beschäftigen. Ich habe dort vor Jahren einfach Romane und Erzählungen eingeschleust – nicht als Aktionismus, sondern aus einem Bedürfnis heraus. Und mein Bedürfnis nach Geschichten stand vor drei Jahren Pate bei der Idee mit der Bibliothek. Ich glaube, dass die Leute sich Bücher kaufen, weil sie eine bestimmte Vorstellung haben, eine ideelle Geschichte. Die Vorstellung ist solange komplett, bis man anfängt zu lesen. Dann stirbt die ideelle Geschichte.

Wie werden Sie die Bibliothek in Hamburg präsentieren?

Während des Projektes in den Hamburger Kammerspielen können die Besucher oder die anderen teilnehmenden Künstler und Wissenschaftler zu mir in die Bibliothek kommen, und ich mache Interviews mit den Leuten. Es wird also eine „Hamburger“ Bibliothek der ungelesenen Bücher. Die Interviews werden auf einer Leinwand übertragen. Falls ich mal zwischendurch nicht anwesend sein sollte, hänge ich meinen Bibliothekarskittel auf – als Stellvertreter.

Homepage Bibliothek: http://thing.bibliothek/ungelesener.buecher „Filiale für Erinnerung auf Zeit“: 2. – 6. September, 18 - 22 Uhr, Hamburger Kammerspiele, Hartungstr. 9 – 11