Geschichte der documenta: Aus dem mythischen Dunkel
Eine Ausstellung in Kassel und ein Symposium in Berlin erforschen die Geschichte der documenta. Einige Spuren führen in die NS-Vergangenheit.
Ein nackter Jüngling aus Bronze steht auf einem weißen Sockel, die Hände flehend nach oben gerichtet. Neben der recht kleinen Statue hängt ein Ölbild in Blau-Gelb, ein Kraftfeld aus Dreiecken und Gittern. Wer dieser Tage die Neue Galerie in Kassel betritt, hat plötzlich das Gefühl, wie es damals tatsächlich ausgesehen haben könnte, 1955, auf der ersten documenta.
Gerhard Marcks’ Skulptur „Orion“ und Georg Meistermanns Gemälde „Gerüste“ sind vor dem transparenten Vorhang „göppinger plastic“ präsentiert. Damit ließ documenta-Gründer Arnold Bode damals die Wände verkleiden. Im Treppenaufgang passieren Besucher ein wandgroßes Foto der weißgetünchten Backsteinmauer in der Rotunde des ausgebombten Fridericianums.
„about: documenta“: Mit seiner neuen Dauerausstellung will das Museum die Geschichte der Schau nachzeichnen, deren Name die Stadt Kassel stolz in ihrem Untertitel führt. 14 Räume stehen für 14 documenta-Ausstellungen – von Arnold Bode bis Adam Szymczyk. Sogar ruangrupa, das neue Kuratoren-Kollektiv der documenta 15 aus Indonesien, hat mit einem treudeutschen Wohnzimmer aus Plüschsofas einen Raum beigesteuert, der die Spekulationen befeuert, was wohl 2022 in Kassel zu sehen sein könnte.
„Die Schau hat bisher alle Erwartungen übertroffen“, freut sich Martin Eberle, der neue Direktor der Museumslandschaft Hessen Kassel. Documenta-Forscher dürften vermutlich eher die Stirn runzeln. Und zwar nicht nur, weil die Kasseler Kuratoren das chaotische Experiment documenta in dem Parcours wie in einer Marketing-Broschüre aufblättern. Sondern auch weil die Forscher den documenta-Mythos längst skeptisch sehen, der in Kassel reinszeniert wird.
„about: documenta“ heißt die neue Dauerausstellung in der Neuen Galerie in Kassel.
Am Deutschen Historischen Museum in Berlin fand das Symposium „Die politische Geschichte der documenta“ im Oktober 2019 statt, ab März 2020 wird eine Ausstellung mit dem gleichen Titel gezeigt.
Die Selbststilisierung der documenta zu einer „Gegenschau“ zur berüchtigten Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 und zu einer Ehrenrettung der Moderne hatte der Kunsthistoriker Walter Grasskamp schon Ende der 80er Jahre verworfen. Schließlich hätte die erste Schau den Juden Felix Nussbaum, den Kommunisten Otto Freundlich oder John Heartfield ausgespart.
Anpassung der Kunstnarrative
Ende Oktober erneuerten Julia Friedrich, Leiterin der Grafischen Sammlung des Museums Ludwig in Köln, und der Cambridger Historiker Bernhard Fulda auf einer Konferenz des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin dieses Verdikt. Raphael Gross, dessen neuen Direktor, fasziniert die „Politische Geschichte der documenta“, so der Titel der Tagung, die im Oktober 2019 stattfand. In diesem Jahr will er im DHM eine Ausstellung dazu eröffnen.
Ein Raunen war freilich durch den Lichthof des DHM gegangen, als Julia Friedrich mitteilte, dass Werner Haftmann, von 1955 bis 1964 künstlerischer Berater von documenta-Gründer Arnold Bode, von 1937 bis zum Kriegsende NSDAP-Mitglied gewesen sei. In dem guten Monat zwischen der Eröffnung der neuen Dauerausstellung in Kassel und der Konferenz in Berlin hätte sich das herumsprechen können. Einen Hinweis darauf sucht man in der Neuen Galerie aber vergebens. Stattdessen prangt an einer Wand Haftmanns Zitat „Die Kunst ist abstrakt geworden“ von 1959, dem Jahr der documenta 2.
Vor dem Hintergrund der Berliner Konferenz liest sich das Mantra der Nachkriegsmoderne plötzlich schal. 1934 hatte Haftmann nämlich, so Friedrich und Fulda, den Expressionismus in einem Aufsatz in der NS-Kunstzeitung Kunst der Nation noch als Beispiel „deutscher Sendung“ schmackhaft machen wollen. Elf Jahre später präsentierte er ihn als Stammbaum der Moderne und sprach von „europäischer Verflechtung“. „Anpassung der Kunstnarrative“, nannte Fulda Haftmanns ideologische Nachkriegsklimmzüge. Eine documenta-Dämmerung sieht Harald Kimpel deswegen aber noch nicht heraufziehen.
Der Kunstwissenschaftler, viele Jahre Mitarbeiter des Kasseler documenta archivs, gilt seit seinem Standardwerk „documenta. Mythos und Wirklichkeit“ als einer der besten Kenner der Geschichte der Schau. Auch in seinem 1997 publizierten Buch gibt es keinen Hinweis auf die NS-Mitgliedschaft Haftmanns.
Kunst im Ost-West-Konflikt
Kimpel ist kein documenta-Apologet. Er weiß, wie im Ost-West-Konflikt politisch instrumentalisiert wurde. Bei Haftmann zeigt er sich verhalten. Beim Gespräch im Café des Fridericianums gibt er allerdings zu, Bode und seinem Berater sei es mit ihren documenta-Ausstellungen auch um „Exkulpation und Selbstexkulpation“ gegangen. Die Kritik seiner Kollegen Friedrich und Fulda zu den Objekten seiner lebenslangen Recherche schreibt er dem Furor der Nachgeborenen zu, sieht sie aber als Fortschreibung seiner eigenen kritischen Position – jedoch: „Wo hätten die unbelasteten Ausstellungsmacher damals denn herkommen sollen?“, fragt er sarkastisch.
Damit mag Kimpel recht haben. „Ich frage mich nur, warum nie früher jemand nach deren Biografien gefragt hat“, wundert sich die Kasseler Kunsthistorikerin Mirl Redmann. Für ihre Doktorarbeit über die „Internationalisierung der documenta“ hat sie unter den 51 an den ersten vier documenta-Ausstellungen beteiligten Machern neun ehemalige NSDAP-Mitglieder ausgemacht.
Bei ihrer Recherche hat Redmann sich nicht nur auf documenta-Akten verlassen. Sondern ist im Berlin Document Center fündig geworden. Bei weiteren acht documenta-Mitarbeitern hält Redmann eine Neubewertung von deren Rolle für angebracht.
Werner Haftmann, ein NSDAP-Mitglied. Eigentlich müssten da in der „documenta-Stadt“ alle Alarmglocken schrillen. Dort kommen die Erkenntnisse aber seltsam zeitverzögert an. Gibt es in Kassel Probleme mit der Aufarbeitung der Vergangenheit?
Jörg Sperling sieht das nicht so. Der pensionierte Schuldirektor, seit 2018 Vorsitzender des documenta-Forums, verweist auf die vielen Gedenkorte in der SPD-Hochburg. „Ich freue mich auf ruangrupa“, sagt der kritische Politologe in seiner mit Kunst vollgehängten Wohnung. Er überlegt sich, Julia Friedrich zu einem Vortrag einzuladen.
„Da können Sie sehen, wie wichtig die kunsthistorische Kernkompetenz in dem künftigen documenta-Institut ist“, entgegnet Birgit Jooss auf die Frage nach den Konsequenzen der jüngsten Forschungen. Seit 2016 ist die Kunsthistorikerin Leiterin des documenta archivs. Jooss hätte sich gewünscht, dass eine der vom Land eingerichteten documenta-Professuren mit einer Kunsthistorikerin besetzt worden wäre. Als „Kerndisziplin“ des neuen documenta-Instituts, das das Land am Kasseler Karlsplatz errichten will. Ausgeschrieben wurden jetzt aber drei Professuren für Architektur, Geistes- und Kulturwissenschaften.
Die documenta-Professur, die es seit 2013 gibt, hält seit zwei Jahren die Philosophin Nora Sternfeld. Sie argumentiert dagegen. „Das neue Institut“, sagt die engagierte Kunstvermittlerin und Kuratorin nach einem anstrengenden Arbeitstag in der abendlichen Examens-Ausstellung der Kunsthochschule, „sollte von der Kunst her denken.“ Sie wünscht sich zusätzlich eine „Künstlerische Professur“.
Das interne Tauziehen zwischen der Universität, der Kunsthochschule und der Politik um ein Prestigeobjekt, für das das Land Hessen immerhin 6 Millionen Euro springen lässt, ist die andere Seite der Zangenbewegung, der sich die documenta gegenübersieht. Mit mehr Geld und neuen Häusern wächst sich das früher überschaubare documenta-Büro in einer alten Schule hinter dem Fridericianum zu einer „hochtourig laufenden Kunstbürokratie“ (Kimpel) aus. An deren Spitze stehen neue Leute: Die neue documenta-„Generaldirektorin“ Sabine Schormann. In Kürze wird der Gründungsdirektor des documenta-Instituts berufen. Derweil schieben sich aus dem mythischen Dunkel der documenta unversehens ein paar alte Nazis ans Tageslicht.
Die braunen Flecken auf der sonst blütenweißen Weste der documenta machen aus ihr nachträglich keine Nazi-Schau. Sie zu untersuchen sollte die documenta aber nicht dem Deutschen Historischen Museum überlassen. Vielleicht könnte sie, wie jüngst Kunstfreund Frank-Walter Steinmeier im Bundespräsidialamt, eine Historiker-Kommission einsetzen, um ihren NS-Kontinuitäten auf die Spur zu kommen. Für die Ergebnisse ließe sich in der Neuen Galerie womöglich noch ein Eckchen finden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich