Geschichte der Schallplatte: Der Glanz von Schellack
Weltmusik, Schlager, Agitprop: Vor über 100 Jahren war Berlin noch der führende Standort in der Schallplattenbranche.
Vor über einhundert Jahren gab es auch Schallplatten aus Metall, aus Ton, Schokolade und Pappe. So eine Pappeplatte mit Zelluloidtonträgerschicht hatte die Berliner Firma Auto-Record 1905 auf den Markt gebracht, versehen mit einer vollmundigen Ankündigung. In einer Anzeige in der Phonographischen Zeitschrift lobte sie ihr Produkt als unzerbrechlich, laut, tonrein, der „billigste Record der Gegenwart“ (75 Pfennig) und prophezeite: „Daher wird Auto Record eine Revolution in der Branche hervorrufen.“
Diese Revolution blieb allerdings aus. Fast so schnell, wie die Pappeplatten verschlissen, erfolgte die Einstellung ihrer Produktion. Das änderte aber nichts an der Popularität des Tonträgers Schallplatte, erfunden 1887 von dem nach Amerika ausgewanderten Hannoveraner Emil Berliner. Aus der ursprünglichen Zink- hatte er die Schellackschallplatte entwickelt, die mit den zugehörigen Grammofongeräten alsbald zur Grundlage einer neuen Branche wurde: der Plattenindustrie.
Schellackplatten waren der entscheidende Wegbereiter der musikalischen Massen-, ergo Popkultur. Der Aufschwung von Jazz und Schlager ist ohne dieses Medium undenkbar. Ein Blick in die Schellack-Ära, vor allem die frühe vor dem Siegeszug von Radio und Kino, fördert mehr zutage als musikhistorische Erkenntnisse: Er gewährt Einblick in das künstlerische Leben, aber auch in das wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche. Die Schallplatte als zeitgenössisches Kulturgut – nicht weniger beleuchtet das großartige und opulente fünfbändige, bei Bear Family erschienene „Bilderlexikon der deutschen Schellack-Schallplatten“.
Das Buch: „Das Bilderlexikon der deutschen Schellack-Schallplatten“ beleuchtet die Schallplatte als zeitgenössisches Kulturgut. Erschienen ist das fünfbändige und auf 500 Stück limitierte Werk bei dem Label Bear Family. Verfasst wurde es von Rainer E. Lotz und seinen Co-Autoren Michael Gunrem und Stephan Puille. Das Lexikon dokumentiert „99,5 Prozent aller deutschen Schallplattenlabels der Schellack-Ära“, die immerhin von 1880 bis etwa 1960 reichte, sagt Rainer E. Lotz.
Der Sammler: Der 82-Jährige Lotz ist selbst eine Legende der Schallplattenkultur. Der Jazzhistoriker und ehemalige Bonner Entwicklungshilfebeamte hat über die Jahrzehnte Schellackplatten aus aller Welt zusammengetragen und einige davon inzwischen an renommierte Bibliotheken veräußert, unter anderem an die Library of Congress in Washington.
Tatsächlich dokumentiert es nahezu vollständig die deutsche Schallplattenherstellung in der Schellack-Ära, die immerhin von 1880 bis etwa 1960 reichte. „Es ist alles dabei, was in der Zeit an Tonträgern hergestellt wurde, mit Ausnahme von Phonographenwalzen“, sagt Herausgeber Rainer E. Lotz. Das heißt, es werden zusätzlich zu den regulären kommerziellen Schellackplatten im engeren Sinne auch alle weiteren Plattentonträger erfasst, darunter Tonpostkarten, Bild-, Reklame- bis hin zu den Sprechpuppenplatten.
Diese Sammlung ist umso beeindruckender, wenn man weiß, dass Deutschland vor und auch wieder einige Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als international führender Hersteller und Exporteur von Schallplatten galt. 1906 kamen zwei Drittel der weltweiten Umsätze von der deutschen Sprechmaschinen- und Schallplattenindustrie mit ihren Zentren Hannover, Leipzig und vor allem Berlin.
Das lag nicht zuletzt daran, dass hier nicht nur heimische Musik veröffentlicht wurde, sondern Klänge aus fast der ganzen Welt. Die Musikproduzenten rüsteten regelmäßig Expeditionen in entlegenste Regionen der Erde aus, um dort Aufnahmen anzufertigen, die sie dann in Deutschland auf Schellack pressten, um sie unter anderem wieder nach China, Russland oder Hongkong zu exportieren.
So war Heinrich Bumb, Mitbegründer der weltweit agierenden Berliner Firma Beka, 1905 höchstselbst mit einem Aufnahmeingenieur zu einer achtmonatigen Reise nach Asien aufgebrochen, um mehr als 1.500 Titel aufzunehmen. Dieses durchaus abenteuerbehaftete Geschäftsmodell war bis in die 1920er Jahre üblich. Der Berliner Musikunternehmer Michael Baida, ein Libanese, kam damit zu besonderem Erfolg. Weil er die besten arabischen Sänger und Instrumentalisten des ganzen Orients von deutschen Technikern aufnehmen ließ und auf Platten presste, beherrschte seine Berliner Firma Baidaphon damals den Markt in der kompletten arabischen Welt und Diaspora.
Als Unterhaltungsmedium der Moderne war die Schallplatte eine Weile sogar unangefochten, da sich Rundfunk und Tonfilmkino erst in den 1920er Jahren zu Massenmedien entwickelten – unterstützt von der Schallplatte, die sich zum Festhalten von Tönen jeglicher Art anbot. Als Audioformat für Opern, Tanzmusik, Kinderlieder, Humor, Kleinkunst, Reklame, für Filmmusik, Politikeransprachen und Propaganda.
Der Rote Frontkämpferbund, zuständig für die kommunistische Massenpropaganda, führte nach seinem Verbot 1929 sein Schallplattengeschäft als „Versandhaus Arbeiter-Kult“ fort. Bis Ende 1930 vertrieb die Proletarische Schallplattenzentrale in der Linienstraße, dank einer Schweizer Mäzenatin, Agitprop. Auch die Nazis hatten ihre Plattenfirma. Der Nationale Schallplatten-Dienst veröffentlichte von 1931 bis 1933 NS-Lieder und Ansprachen von Parteiführern auf Bild- und Tonplatten und beförderte den Aufstieg der Nazis, der vor allem für jüdische Firmen gravierende Folgen hatte.
„Nach Hitlers Machtübernahme konnten nur die kleinen Firmen Semer und Lukraphon unter Aufsicht der Gestapo weiterexistieren“, sagt Lexikon-Herausgeber Lotz. „Bis zu den Olympischen Spielen 1936 waren sie noch relativ frei im Programm, dann wurde ihnen untersagt, Musik von arischen Komponisten aufzunehmen. Nach der sogenannten Reichskristallnacht 1938 waren Produktion und Verkauf von Schallplatten endgültig verboten.“ Semer-Chef Hirsch Lewin kam für fünf Monate ins KZ, ehe er nach Österreich abgeschoben wurde. Als Holocaustüberlebender hat er 1946 in Palästina neue Labels gegründet, auf denen er auch Aufnahmen veröffentlichte, die er ursprünglich für die Semer in Berlin gemacht hatte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Berlin seinen Status als Zentrum der deutschen Plattenindustrie. Firmen wie Tempo oder Telefunken wanderten nach Westdeutschland ab. Ostberlin wurde Sitz der volkseigenen DDR-Schallplattenindustrie mit den Hauptlabels Amiga (Unterhaltungsmusik) und Eterna (Klassik und Arbeiterlieder), die der Arbeitersänger Ernst Busch mit Genehmigung des sowjetischen Militärkommandanten 1947 gegründet hatte.
Den Ruhm ganz besonderer Schallplattenveröffentlichungen teilen sich das einstige Ost- und Westberlin jedoch. Die letzte für den (ost)deutschen Markt hergestellte Schellackplatte lieferte 1961 Amiga: „Das Lied vom alten Plattenschrank“ von Monika und Ruth und dem Columbia-Quartett. Danach wurde die Platten in Vinyl gepresst. Womit die Geschichte für das Lexikon aber noch nicht ganz zu Ende ist, da in Ost- und Westdeutschland seit 1955 bis in die 1990er Jahre Sprechpuppen, Lachsäcke und Kindergrammofone hergestellt wurden, die winzige Kunststoffschallplatten von 5 bis 8 Zentimetern Durchmessern verwendeten. Da schloss sich insofern ein Kreis, als es erste Versuche mit Sprechpuppen und Schellackplatten bereits Ende des 19. Jahrhunderts im thüringischen Waltershausen gegeben hatte.
Technologisch war es also eine Reminiszenz an die Anfangszeit der Schallplattenindustrie, als die avantgardistische Berliner Band Die Tödliche Doris 1984 die Box „Chöre & Soli“ mit acht solcher Miniphon-Schallplatten samt batteriebetriebenem Abspielgerät herausgab. Eine Skurrilität made in Westberlin, als Format einzigartig und deshalb heute eine begehrte Rarität, die gleichfalls im „Bilderlexikon der deutschen Schellack-Schallplatten“ dokumentiert ist. Ein weiteres Zeugnis des Status der Schallplatte als sowohl künstlerisches wie technologisches Kulturgut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?