Geschäftsführende Piratin Marina Weisband: Eine, die alle lieben
Sie sagt, sie sei ein Kind des Internets. Insofern ist sie bei den Piraten richtig. Aber Prinzessin Lillifee mögen? Marina Weisband rockt die erstarrten Politprofis.
Die Tür geht auf. Die Show beginnt. Marina Weisband hat sich für das Wallende entschieden: Ein knöchellanger, bordeauxroter Stufenrock. Langes offenes Haar. Sie führt ins Wohnzimmer und sinkt aufs Sofa. Der Blick fällt auf ein blasses Dekolleté mit einem dezenten Davidstern. Sie sagt: "Die Politik muss wieder lebendig werden." Dann beißt sie beherzt in einen Germknödel, den sie mit rosa Zuckerstreuseln verziert und hübsch neben den Salzstangen angerichtet hat.
Marina Weisband ist ein Exot im Metier der Zweckmäßigkeit. Die Geschäftsführerin der Piratenpartei empfängt nicht als Politikerin. Sie führt als schillernde Lady in ihr geheimes Reich. Jede ihrer dramatischen Gesten, jedes Detail in ihrer aufgeräumten Münsteraner Wohnung stimmt.
Hier die sorgsam arrangierten Zimmerpflanzen, da die Billy-Regale Marke Buchefurnier voller russischer Romane und Fantasyschmöker. Zarte Bleistiftzeichnungen aus eigener Produktion. Ein sepiabraunes Bild mit dem Freund, beide als Tangotänzer.
MARINA WEISBAND wurde 1987 in Kiew geboren und studiert heute in Münster Psychologie. Im März 2011 wurde sie Geschäftsführerin der Piratenpartei. Im Oktober 2011 trat sie mit einer Zopffrisur à la Julia Timoschenko auf der Bundespressekonferenz der Piratenpartei auf und behauptete, sie interessiere sich nicht für die Frauenfrage in ihrer Partei.
Marina Weisband sagt, sie sei ein Kind des Internets, sie sei mit Rollenspielen aufgewachsen. Sie erzählt gern, wie sie Theater spielt. Wie sie singt, dichtet, und russische Barden von Wladimir Wyssozki bis Bulat Okudschawa übersetzt, denn sie ist ein Kind russischer Einwanderer, sie kennt sich in vielen Welten aus.
All das wiederholt ihre Botschaft vom biederen und versponnenen Mädchen, das aus der Fremde kam, das voller Überschwang ist und voller Unsicherheit. Marina Weisband trägt das Herz auf der Zunge. Es ist ihr auch nichts peinlich - Hauptsache, der verknöcherte Politikstil, wie wir ihn alle kennen, kommt mal so richtig durcheinander.
Marina Weisband wurde 1987 geboren, als Tochter eines Informatikers und einer Ökonomin in Kiew. "Meine Familie gehörte zur verarmten jüdischen Intelligenz", erinnert sie sich. Marina Weisband musste mit Büchern auf dem Kopf balancieren, und schon mit zwei, sagt sie, hatte sie eine hochliterarische Sprache. Als sie sechs war, gingen die Eltern nach Deutschland.
Natürlich konnten sie nie an das anschließen, was sie in der Sowjetunion hatten. Marina Weisband erzählt: "Ich war ein kränkliches Kind. Ich sprach kein Wort Deutsch, als ich eingeschult wurde." Und dann, erzählt sie, die Teenagerzeit. Sie musste sich vor allem um ihren jüngeren Bruder kümmern, der immer in der Schule einschlief und nicht mehr aufzuwecken war. Später wurde bei ihm das Asperger-Syndrom diagnostiziert.
Kein Interesse für Politik
Heute ist Marina Weisband 24 und studiert in Münster Psychologie. Für Politik interessierte sie sich nie, sagt sie. Aber dann wurde sie zu einem Stammtisch der Piratenpartei geschleppt. "Ich fühlte mich sofort aufgehoben", schmunzelt sie und greift zu ihrem Tee. Der tiefere Grund, warum sie sich geborgen fühlte?
Marina Weisband hat ihn bereits geliefert: Das war im Oktober, als sie mit dem Parteivorsitzenden Sebastian Nerz und Berliner Fraktionschef Andreas Baum auf der Bundespressekonferenz der Piratenpartei auftrat. Marina Weisbands Haar war zu einer aufwendigen Zopffrisur geflochten, wie Julia Timoschenko, das Gesicht der ukrainischen Revolution.
Eines der Lieblingsthemen von Marina Weisband ist Bildungspolitik. Ihre Diplomarbeit wird sie übers Wertesystem ukrainischer Schulkinder schreiben. Demnächst ist sie bei einem Wuppertaler Elternverein eingeladen, sie wird darüber sprechen, warum viele Migranten viel zu wenig wissen übers deutsche Schulsystem.
Es ergibt also Sinn, dass Marina Weisband immer wieder betont, alle Ideen der Piratenpartei - Transparenz, Freiheit, Grundrechte - würden sich von einem Kerngedanken herleiten. "Jeder Mensch ist mündig, wenn man ihn informiert." Man könnte es auch popkulturell, in der Sprache von Punk sagen: Jeder darf Musik machen, wenn er will. Und wenn er weiß, wo man sich eine Gitarre borgen kann.
Es war eine der schönsten Nebenwirkungen von Punk, dass er so vielen Frauen erlaubte, zu Gitarren zu greifen. Die kurze Geschichte der Marina Weisband ist auch eine Geschichte von sozialer Durchlässigkeit.
Kein Viehzählen
Damals, als Marina Weisband ihren großen Auftritt auf der Bundespressekonferenz hatte, da hieß es überall: Die Piratenpartei kümmert sich nicht um Frauen. Gegründet von einer Horde Hackern, sei die Partei bis heute dominiert von Männern um die dreißig mit gutbürgerlichem Hintergrund, die sich trotzdem frech weigern, eine Frauenquote einzuführen. Auch Marina Weisband sagt dazu, was die meisten Piraten sagen. "Ich bin Feministin, aber ich bin dagegen, Frauen zu diskriminieren, indem man sie wie Vieh zählt."
Seither ist viel darüber nachgedacht worden, warum junge Frauen um die Zwanzig sich nicht für gläserne Decken interessieren, nur, weil sie selbst noch an keine gestoßen sind - und was das aussagt über den Zustand unserer Gesellschaft, dass jeder nur an sich selbst denkt und dabei keine Konfrontationen wagt.
Wer Marina Weisband studiert, der könnte auch über anderes nachdenken. Zum Beispiel darüber, warum sie so viel Applaus von ihrer Partei bekommt.
Nur nach außen hin ein Punk
Einmal, sagt Marina Weisband, habe sie einen Bundesparteitag der Piraten unterbrochen. Sie zeigte eine Folge von "My little Pony" - eine US-amerikanische Fernsehserie für kleine Mädchen, in der rosa Pferde über ernste Themen wie Freundschaft diskutieren. Ihre Kollegen fanden das klug.
"Marina Weisband agiert nur nach außen wie ein Punk. In Wahrheit hält sie den Laden zusammen", sagt etwa Stephan Urbach, seit Mittwoch Referent der Piratenpartei für Wissens- und Informationsmanagement im Berliner Abgeordnetenhaus.
Er bewundert, wie sie es schafft, mit allen zu sprechen, und dabei immer freundlich zu bleiben. "Sie ist eine Friedensstifterin", sagt auch Sebastian Knorr, ein alter Kollege von den Piraten in Münster, und erzählt von den Nerds in seiner Partei, den Datenschützern, den Krawallmachern und Aluhüten, wie sie sich selbst nennen. Es ist ein Kunststück, solche Leute zu integrieren, meint er.
Alle lieben Marina Weisband. Manche nennen sie "die nächste Kanzlerin" oder, was sie noch lieber mag, "die Prinzessin". Man kann es ihr nicht verdenken, dass sie auf dem Höhenflug ist. Auf dem Sofa in ihrer Wohnung plaudert sie klug, amüsant und ein wenig überdreht von Tschernobyl und Barbie, von frühkindlicher Erziehung und J. R. R. Tolkien. Dabei schaut sie nervös auf ihr Handy, checkt neue Nachrichten und Tweets, manche liest sie vor. Mal wirkt sie dabei aufgekratzt, mal seufzt sie ehrlich erschöpft. Einmal sagt sie, dass sie große Angst hat.
Doch da kommt ihr Freund nach Hause. Markus Rosenfeldt, ein Zweimetermann mit Ahab-Bart, ist Buchhändler und studiert Geschichte. Während seine Freundin im Nebenzimmer ein Telefonat erledigt, ringt er um Erklärungen. Er will sagen, warum ihn die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung interessiert, er will sagen, warum er Mitglied der Piratenpartei geworden ist.
Doch da kommt sie auch schon zurück und er muss wieder los, zu einer Verabredung. Marina Weisband, die zarte Empfindsame, steigt auf einen Stuhl, um ihn zu küssen. Dann beschließt sie, ohne ihn etwas essen zu gehen.
Weisband ist konkurrenzlos
Ihr Ziel, das Bohème Boulette, entpuppt sich als eine Mischung aus literarischem Salon der Zwanziger und Absturzkneipe. Marina Weisband wirft einen Kontrollblick in den Spiegel, bevor sie sich malerisch langsam den Mantel aufknöpft. Dann bestellt sie sich eine Portion Bratkartoffeln mit Cola. Assoziationen stapeln sich auf Assoziationen.
Ein Gedanke an Kate Bush ploppt auf, die Hohepriesterin der exzentrischen Kindfrauen im Pop. Ein Gedanke an Thomas Manns "kirgisenäugige" Clawdia Chauchat legt sich darüber, die am Mittagstisch durchs Drehen von Brotkügelchen und "ähnliche Ungezwungenheiten" auffällt. Und dann gibt es da auch noch einen Gedanken an Prinzessin Lillifee. Marina Weisband verwirrt.
Aber das ist ja das Schöne, denn Alternativen zum Konzept Weisband gibt es zumindest auf dem Feld weiblicher Mainstream-Politik nicht. Renate Künast, die Sozialarbeiterin aus dem Knast, wirkt heute strenger als ihre strengsten männlichen Kollegen. Sahra Wagenknecht macht auch dann noch ein saures Gesicht, wenn das Publikum Beifall klatscht. Und Kristina Schröder, die als Kind Helmut Kohl anhimmelte, wartet lieber vergeblich darauf, dass die großen Jungs mit ihr spielen, als Frauenpolitik zu machen.
Eloquenz und Empathie
Marina Weisband hat mit einer Zopffrisur, rosa Ponys, Eloquenz und Empathie viel Rock 'n' Roll in der Politik dieser erstarrten Vollprofis entfesselt.
Am nächsten Mittag übrigens, beim zweiten Treffen mit der jungen Politikerin in einem Café, kam ein junger Mann mit Oversize-Brille und Jogginghose aus Österreich zum Gespräch dazu. Zur Begrüßung fiel er vor Marina Weisband auf die Knie. "Du bist unsere Rettung, Marina!", rief er aus. Dann stellte er sich als Christian Windisch, zukünftiger Pirat, Nazijäger und Snowboardlehrer mit philippinischen Wurzeln aus der Steiermark vor.
Er behauptete, er sei zehn Stunden gefahren, nur, um sie endlich kennenzulernen. Dabei wirkte er ein wenig übergeschnappt vor lauter Müdigkeit. Und hier nun zeigte sich Marina Weisband von einer Seite, die sie bislang verborgen hatte. Geradezu mütterlich griff sie zum Telefon - und organisierte erst einmal einen Ort, wo er sich gründlich ausschlafen konnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken