Georg-Büchner-Preis für Martin Mosebach: Die Möglichkeit des Romans
Mit dem nicht unumstrittenen Mosebach werde ein Schriftsteller ausgezeichnet, den nur wenig mit der deutschen Literatur zu verbinden scheint, sagt in seiner Laudatio NAVID KERMANI.
Martin Mosebach glaubt an den Roman - den Roman im eigentlichen französischen oder russischen Sinne, den Roman als die Anmaßung, ein Abbild der Wirklichkeit zu schaffen, der gesamten Wirklichkeit, einer Gesellschaft, einer Epoche, eines Zustands, wie sie sich in einer Stadt, einem Viertel, eines Milieus oder einem Jahr verdichten.
Halten wir uns seine Romane vor Augen, "Das Bett", "Die lange Nacht", "Das Beben" und all die anderen. Vergegenwärtigen wir uns die immer gleichen Verlaufsgeschichten aus einmaligem Wagnis und dauerhaftem Scheitern, betrachten wir das Personal, das bis in die Nebenfiguren so ausdrucksstark gezeichnet ist wie in Tschechowschen Dramen, erinnern wir uns vor allem der immer leicht tolpatschigen Helden auf ihrem Stolpermarsch durch die Fremde, die ihnen die Welt ist, bedenken wir die reichlich verwendeten Stilmittel des Sarkasmus, der Groteske, überhaupt des Humors, diesen leicht ironischen, nein selbstironischen Ton - woher wirken diese Charakteristika, bei aller Eigenart, bei aller Absonderung von der Gegenwartsliteratur, woher wirken sie dann doch vertraut, aus welcher Genealogie leiten sie sich her? Wir müssen weiter zurückgehen als bis zu Heimito von Doderer, noch weit vor Marcel Proust, weiter als Stendhal oder Honoré de Balzac, dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts, mit dem Mosebach oft assoziiert wird, noch vor Eichendorff oder Moritz, wir müssen zurückgehen an den Anfang des modernen Romans, um den Ursprung des Mosebachschen Tons zu finden. Wir müssen zurückgehen bis zum Scharfsinnigen Edlen Herrn "Don Quixote von la Mancha" des Miquel de Cervantes Saavedra.
So wie Cervantes mit seinem Don Quixote verwirft Mosebach in seinen Romanen einen überholten, von festgefügten Formen, Werten und Ritualen bestimmten Entwurf des Lebens und Schreibens, gerade indem er ihm bis aufs Äußerste verpflichtet zu sein scheint. Jeder seiner Sätze ist wohlgeformt, die Grammatik stets korrekt, der Rhythmus von gleichmäßiger Beschwingtheit, die Erzählung streng chronologisch und jedenfalls auf den ersten Eindruck auktorial so ungebrochen, als hätte es nie Joyce, nie Adorno gegeben. Entsprechendes gilt für die gesellschaftlichen Verhältnisse: In Mosebachs Romanen wird noch um 12 Uhr zu Mittag gegessen, und es gibt Kunstverstand, Traditionsbankhäuser und Liebespaare, die - Achtung, halten Sie sich fest! - erst nach der Hochzeit eine gemeinsame Wohnung nehmen. Kein Sex vor der Ehe! In der bundesdeutschen Wirklichkeit des neuen Jahrtausends, in der Christdemokraten auf Fragebögen die gleichgeschlechtliche Ehe zu den unveräußerlichen, von Neubürgern gefälligst zu heiligenden Errungenschaften der Aufklärung ausrufen wollen, wirkt schon die Andeutung einer jungfräulichen Ehe so antiquiert wie die Ideale der Ritterlichkeit zu Cervantes Lebzeiten.
Allein, Mosebach ist ein viel zu aufmerksamer Zeitgenosse, um zu übersehen, dass seine Protagonisten eher gestrig als zukunftsträchtig sind. Gerade darum interessiert er sich für sie. Und er ist ein viel zu reflektierter Autor, um die Krise des realistischen Erzählens im 20. Jahrhundert zu ignorieren, die zugleich die massenhafte Vervielfältigung des Realismus durch den Film ist. So absurd es wäre, Cervantes zum letzten Vertreter des mittelalterlichen Ritterromans zu erklären, so abwegig ist es, Mosebach für einen Reaktionär zu halten, der mit dem Roman des 19. Jahrhunderts auch dessen bürgerliche Welt zu restaurieren suche, gibt er doch das Gewand, in dem seine Werke daherkommen, ebenso der Lächerlichkeit preis wie den Lebensstil, den sie zu feiern scheinen.
Ähnlich wie Cervantes den Don Quijote platziert Mosebach seine Romane in einer sozialen Wirklichkeit, die bis hin zu den Straßennamen, den Tankstellen und den Bezügen zu realen Personen und tagespolitischen Ereignissen identifizierbar ist - freilich nur, um der prosaischen Welt eine imaginierte Welt entgegenstellen zu können, in der selbst die Nebenfiguren Charakterköpfe sind, noch in ihrer panischen Furcht mannhafter, in ihrer Oberflächlichkeit tiefgründiger, in ihrer Dummheit differenzierter als wir wirklichen Menschen. Gerade um sie poetisch aufzuladen, muss die Welt, in der Mosebachs Romane spielen, von größtmöglicher Gewöhnlichkeit sein. Was Cervantes die Mancha ist, jene unspektakuläre, steinige Gegend seiner Herkunft, ist Mosebach das Nachkriegsfrankfurt mit seinen zehnspurigen Verkehrsschneisen, dem vierzigstöckigen Größenwahn der Jetztzeit, mittendrin der Witz einer neu gebauten Altstadt.
ie literarische Gattung, die er gewählt hat, untersagt ihm genauso wie Cervantes das Übernatürliche - also muss er, nicht zuletzt hierin ganz katholisch, noch die gewöhnlichsten Situationen ins Gleichnishafte, Wunderbare wenden, sei es eine Kuh, die durch die Eingangshalle eines indischen Flughafens schreitet, eine Ameise, die im Kamin verbrennt, oder eine Katze, die am Helden vorbeischleicht. Überhaupt die Tiere - es ist kein Zufall, dass sie bei Mosebach eine ähnlich prominente Rolle spielen wie im Don Quixote. Ob es dessen Abenteuer mit den Schafen ist, mit den Stieren oder mit den Schweinen - auch für Cervantes eignen sich gerade die Tiere in ihrer Stummheit und Andersartigkeit als Projektionsfläche einer fremden, magisch anmutenden Realität, nicht um die Existenz des Magischen zu veranschaulichen, sondern die Profanität unserer Existenz. Die große, dichte Staubwolke am Horizont wird ja nur für Don Quixote "von einem großmächtigen Heere" aufgewirbelt, "aus den verschiedensten unzählbaren Völkern zusammengesetzt". Für den Leser bleibt es eine Schafherde, gegen die der komische Ritter zu Felde zieht. Sosehr dessen neuerliche Blamage amüsiert, erzeugt Cervantes Roman jedoch zugleich ein Gefühl des Bedauerns, in einer Welt zu leben, in der Schafe nur Schafe und Ritter nur Witzfiguren sind.
Wie die Windmühlen ausschließlich in Don Quixotes Augen ungestalte Riesen sind, die mit den Armen um sich schlagen, die Marionetten lebende Menschen, der Blecheimer ein Helm, beschreiben die größten Szenen in Mosebachs Romanen ein Drama, das sich ausschließlich in der Wahrnehmung des Protagonisten abspielt. Die Dunkelheit, um nur ein Beispiel zu nennen, die Dunkelheit in "Die Lange Nacht" ist nichts als ein gewöhnlicher Stromausfall in einem leeren Bürogebäude, aber wie Mosebach die existenzielle Verzweiflung beschreibt, in die der Protagonist Ludwig Drais auf der Suche erst nach dem Ausgang, dann nach der Toilette schliddert - das ist mehr als bloßer Slapstick: Das entwickelt sich aus einer nichtigen Begebenheit zu einem geradezu biblischen Gleichnis menschlicher Lächerlichkeit, über die sich freilich nur die Götter amüsieren beziehungsweise die Leser. Ludwig Drais selbst bleibt nicht einmal der Trost, dass sein Leiden heroisch wäre wie in alten Büchern. Er muss einfach nur aufs Klo. "Hatte zwischen der Literatur und dem Leben eigentlich immer schon solch ein unüberbrückbarer Graben gelegen?", fragt der Erzähler gegen Ende des Buchs. Die Literatur erzähle von schicksalhaften Ereignissen, von Liebe und Eifersucht, Schuld und Sühne. All das habe es in Ludwigs Leben gegeben, die Liebe zu einer verheirateten Frau, den Betrug, sogar den Tod.
"War das nicht Stoff für eine ergreifende Erzählung? Wie musste Menschen zumute sein, denen so etwas zustieß? Den Helden eines solchen Romans - man sprach tatsächlich von Helden, weil ein heroischer Kampf geschildert wurde, bei dem die Menschen an den Institutionen, die Institutionen an den Menschen, alles zusammen aber an Schuld und Sühne zugrunde ging."
Man sieht hier genau, dass auch Mosebach eine literarische Tradition als überholt erklärt, indem er sie unter heutigen Vorzeichen fortführt, und zwar mit der Genauigkeit dessen, der um ihr Ableben trauert.
So wenig wie der Don Quixote, in dem sich gegen den Trend der damaligen Zeit keinerlei antiabsolutistischen oder antikatholischen Klänge finden, sind Mosebachs Werke progressiv. Respekt verdient, was sich sinnlos gegen den Verfall stemmt, und sympathisch ist, wer verliert. Das mutet konservativ an, ist aber eher die Skepsis dessen, für den Entwicklung nicht Fortschritt bedeutet. Mosebachs Blick ist rückwärts gewandt, ja. Wohin auch immer er blickt - ob auf Deutschland, Ägypten oder Indien -, interessiert ihn die Pracht des Gestrigen, gerade insofern sie gestrig ist. Seine Romane schildern das Vergängliche, um es gegen das Bestehende zu wenden und dessen Anmaßung anzufechten, es sei von Dauer. In der literarischen Welt Martin Mosebachs ist das Leben per se Verfall, ohne dass menschliche Verhältnisse jemals besser gewesen wären.
Ich behauptete zu Beginn, dass Martin Mosebach an den Roman glaube. Der ist freilich eine literarische Gattung, die in ihren Anfängen noch deutlich die Züge älterer Erzählformen trägt, speziell des Epos und der Märchensammlung mit ihrer Rahmenhandlung. Modern am Don Quixote ist nicht sein Weltentwurf, sondern dessen Scheitern, ist nicht die literarische Form an sich, sondern dass sie zum Zitat und damit gebrochen wird. Indem Cervantes den Roman als Übersetzung eines arabischen Schriftstellers ausgibt, den er auf dem Markt von Toledo erworben haben will, und dann noch einen zweiten, angeblich später entstandenen Teil anhängt, darin alle Protagonisten bereits den ersten Teil der Geschichte kennen, spielt er mit den literarischen Behauptungen, den Wirklichkeitsebenen, der Aufnahme seines eigenen Werkes. Auch bei dem so formstreng auftretenden Mosebach hat der sprachliche Gestus etwas von einem Zitat, nimmt er gerade diejenigen Wendungen willentlich auf, die der Duden als veraltet brandmarkt, und gerät zugleich die Form immer wieder völlig aus der Fassung. Figuren wie das Ehepaar Kn. in "Die Lange Nacht" werden kurz vor Ende der Geschichte eingeführt, ausführlichst beschrieben, nur um urplötzlich wieder abzutreten und bis zum Ende des Buches nicht mehr in Erscheinung zu treten. Oder gehen Sie der Reihe nach die Konstruktion seiner Romane durch, etwa im Beben das Erscheinen der Frankfurter Geliebten ausgerechnet am Hof des indischen Dorfkönigs - der dem Helden selbstverständlich die Geliebte buchstäblich vor den Augen wegschnappt, nur um sie wieder an den zufällig auch durch Indien tourenden Kunstguru zu verlieren, mit dem die Frankfurterin eigentlich verbandelt ist: Das ist so durchsichtig, dass man begreift, wie gleichgültig Mosebach die Konstruktion ist, die er scheinbar bedient, die immer gleichen Personenkonstellationen, ein ähnlicher Plot, die merkwürdigen Fügungen, dieselbe ironische Tonlage.
en Unterschied macht nicht die Geschichte, die beliebig, ja austauschbar anmutet, sondern der Mut, sich in eine einzelne Situation, eine abseitige Episode von vielleicht zehn, vielleicht fünf, vielleicht zwei Minuten Realzeit hineinzustürzen wie in einen reißenden Fluss, sich darin 10, 15, 30 Seiten treiben zu lassen, ohne einen Gedanken zu verschwenden ans Ufer, an das, was draußen in der Handlung passiert. Mosebachs Romane wirken auf mich an diesen Stellen wie Improvisationen des Jazz oder der Rockmusik, die sich häufig aus den banaleren Stücken entwickeln, um die Komposition in den besten Momenten hinter sich zu lassen, ja sie für den Augenblick vollständig zu vergessen.
Bislang am weitesten getrieben hat Mosebach diese wahrhaft mystische Hingabe an das Objekt des Erzählten in seinem vorletzten Roman "Das Beben", der in Frankfurt einsetzt wie ein typischer Mosebach-Roman, um sich im zweiten Teil in eine literarische Meditation, eine einzige große Situationsbeschreibung zu verwandeln, die schon in ihrer Proportion nach in keinem Verhältnis steht zu dem viel kürzeren ersten Teil und dem winzigen Schlussteil. Auf diesen gut zweihundert Seiten, in denen so gut wie nichts und in wenige Szenen gepresst alles passiert, bricht Mosebach nicht bloß die Form des Romans auf, er bringt sie zum Bersten. Spannung, Realzeit, dramatische Entwicklung im konventionellen Sinne spielen darin keine Rolle mehr. Darin ist, was darin ist. In "Das Beben" gibt Mosebach preis, dass sein Glaube an den Roman so verwegen, so anmaßend, so absurd und sogar lächerlich ist wie der Glaube des Don Quixote, ein Ritter zu sein. Aber genau durch das Scheitern - das ist der Clou - wird Don Quixote zum Ritter, werden die Windmühlen zu Riesen, gelingt Martin Mosebach der Roman.
Gekürzte Fassung
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