Gentrifizierungsgegner in Berlin: Nuriye und Kalle wollen bleiben
Nirgendwo in Berlin steigen die Mieten so rasant wie in Kreuzberg. Dagegen hat sich eine Allianz gebildet, die türkische Familien und junge Migranten mit Kiez-Aktivisten verbindet.
BERLIN taz | Ein Geiger schrammelt revolutionäre Kampflieder, ein kleiner Pulk spendet ihm Applaus. Viele hier tragen Rucksäcke, Cargohosen oder schwarze T-Shirts, es ist der klassische Look der Kreuzberger Linken. An diesem Tag aber hat es sie weit weg von ihrem Heimatbezirk, etwa acht Kilometer quer durch die Innenstadt, in Berlins bürgerlichen Stadtteil Charlottenburg verschlagen.
Vor dem Haus, in dem die Vermögensverwaltung Falstaff ihren Sitz hat, demonstriert das „Bündnis gegen Zwangsräumung“. Auf einem Transparent prangt die Losung: „Ob Nuriye oder Kalle, wir bleiben alle“. Inmitten der Menge thront Nuriye Cengiz, die damit gemeint ist, in ihrem Rollstuhl. Als die 63-Jährige das Mikrofon bekommt, erzählt sie mit lauter Stimme die Geschichte, wie sie von ihrem Vermieter ausgetrickst wurde, schimpft auf die Politik und bricht zwischendrin fast in Tränen aus.
Die türkische Rentnerin ist zur Symbolfigur für die Opfer der steigenden Mieten in Berlin-Kreuzberg geworden. Schon mit der Wiedervereinigung rückte die Szene- und Migrantenenklave, die jahrzehntelang im Schatten der Mauer vor sich hin dämmerte, abrupt ins Zentrum der Stadt zurück. Doch erst jetzt schlägt das in entsprechenden Preisen auf dem Wohnungsmarkt durch. Die treffen die Bewohner nun mit umso mehr Wucht: Bei Neuvermietungen verzeichnet der Bezirk derzeit den relativ höchsten Anstieg in der ganzen Stadt.
In Zeiten von Eurokrise und Banken-Gaunereien suchen Privatleute und Investoren im In- und Ausland nach Sicherheit. Häuser zu kaufen und zu vermieten und auf regelmäßige Mietzahlungen zu hoffen, scheint vielen derzeit sinnvoller, als das Geld auf dem Konto zu parken oder in Aktien anzulegen.
Folge der großen Nachfrage nach Immobilien in Berlin: Zwischen 2003 und 2011 stieg der Preis von Eigentumswohnungen im Schnitt um 39 Prozent an, wie eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) jetzt ergab.
Weitere Folge: Auch die Mieten klettern himmelwärts.
Neukölln + Kreuzberg = „Kreuzkölln“
Auch Nuriye Cengiz ist davon betroffen, obwohl sie streng genommen in Neukölln lebt – allerdings in jenem Teil, der wegen seiner Nähe zu Kreuzberg auch „Kreuzkölln“ genannt wird. Hier teilt sie sich mit ihren beiden Katzen und zwei Kaninchen eine kleine Wohnung, deren Wände Koranverse schmücken.
In letzter Zeit sitzt bei ihr häufiger Sandy Kaltenborn auf dem Sofa, beide rauchen dann ihre Selbstgedrehten. Der 43-Jährige trägt Hornbrille, Seitenscheitel, eine Jeansjacke mit Buttons – und man merkt, dass ihm Nuriye Cengiz’ aufmüpfige Art gefällt. „Viele ältere Migranten haben Angst, ihre Rechte geltend zu machen“, sagt er, doch Nuriye Cengiz bilde da eine Ausnahme: An ihre Fenstern hat sie außen Zettel angebracht, mit denen sie auf ihre Situation hinweist. „Ich, Rentnerin, im Rollstuhl, soll raus und will nicht“, steht da. Oder: „Hier wird gentrifiziert“.
Seit 1969 lebt Nuriye Cengiz in Berlin, bis 1990 schraubte sie hier Telefone zusammen. Wie viele türkische Migranten verlor sie nach dem Mauerfall ihren Job. Als der neue Eigentümer vor ein paar Jahren ihr Haus erwarb, setzte er die Mieten drastisch herauf, ihre stieg von 386 auf 626 Euro – zu viel für das Sozialamt, das ihre Miete bezahlt. Fast alle Nachbarn sind inzwischen ausgezogen, ihre Wohnungen wurden verkauft, nur Nuriye Cengiz harrt im Erdgeschoss noch aus und prozessiert.
„Prekärer Kreativarbeiter“
Auch Sandy Kaltenborn hat, als Sohn deutsch-afghanischer Eltern, einen Migrationshintergrund. Als „prekärer Kreativarbeiter“, wie er sich selbst bezeichnet, gehört der Grafikdesigner aber zu den Besserverdienenden in seinem Neubaublock am U-Bahnhof Kottbusser Tor, der nicht weit von Nuriye Cengiz’ Wohnung entfernt liegt. In den rund 1.000 Exsozialwohnungen leben überwiegend türkischstämmige Familien, viele von Hartz IV. Bei fast 80 Prozent von ihnen geht rund die Hälfte des Einkommens für die Miete drauf.
Die Gegend um den U-Bahnhof Kottbusser Tor ist kein schönes Pflaster. Nicht zufällig stabreimte Peter Fox in seinen Hits das Wort „Kotze“ auf „Kotti“. Auf einer Seite des Platzes versammelt sich traditionell die Junkieszene der Stadt, Spritzen im Hauseingang sind keine Seltenheit. Die südlich gelegene Hochhaussiedlung dagegen ist überwiegend türkisch geprägt: Dort unterhält der Fußballclub Türkiyemspor sein Vereinslokal, eine türkische Bank hat hier ihre Filiale, und eine Ladenstraße nennt sich „Orient-Basar“.
Nun droht die Gentrifizierung. Deshalb hat sich Sandy Kaltenborn einer Initiative angeschlossen, die eine verbindliche Obergrenze für die Mieten der privatisierten Sozialbauten fordert. Der Senat könnte dazu beitragen, indem er auf Zahlungen der neuen Eigentümer verzichtet. Das Bündnis nennt sich „Kotti & Co“ und ruft hin und wieder zu „Lärmdemos“ auf. Mit Trillerpfeifen und Kochtöpfen ausgerüstet, ziehen die Demonstranten durch den Bezirk. Am Samstag ist es wieder so weit.
Ein festes Lager am Kotti
Im Schatten des Hochhäuser am Kotti haben die Protestierer seit einigen Wochen sogar ein festes Lager aufgeschlagen. Ein Palettenholzverschlag, den ein Architekt konzipiert hat, dient als Info-Stand, aus einem Samowar wird dort Tee ausgeschenkt. Sandy Kaltenborn hat dazu die „I love Kotti“-Aufkleber entworfen, die jetzt überall in der Umgebung kleben. Ein Renner sind auch die „Hello Kotti“-Buttons mit dem zwinkernden Gesicht einer Katze, die eine Sicherheitsnadel im Ohr trägt.
Ironie der Geschichte: Erst durch das Protestcamp ist hier ein Treffpunkt entstanden, der den unwirtlichen Platz schmückt und verschiedene Milieus zusammenbringt. Auf den Holzbänken tauschen sich nun türkische Frauen mit Kopftuch mit deutschen Malochern und mit den Kiez-Aktivisten aus, die gegenüber den „Südblock“ eröffnet haben, eine Bar mit schwul-lesbischer Showbühne. Es ist eine Szene, wie sie Gerhard Seyfried in seinen legendären Kreuzberg-Cartoons nicht schöner hätte zeichnen können.
„Ich bringe manchmal Brötchen vorbei“, sagt Kreuzbergs grüner Bezirksbürgermeister Franz Schulz und lacht. Viel mehr kann er auch nicht tun, außer zu versuchen, Gespräche zwischen den Protestlern, der Stadtverwaltung und dem Senat in Gang zu bringen. Aber der hat Angst, einen Präzedenzfall zu schaffen und damit Nachahmer auf den Plan zu rufen, wenn er den Protesten am Kotti nachgibt.
Denn der Kotti ist in Kreuzberg keine Ausnahme. Im nahe gelegenen Wrangelkiez ist der Anteil der türkischstämmigen Bevölkerung in den letzten zehn Jahren um rund ein Drittel gesunken. An deren Stelle sind Neuberliner aus Ländern wie Frankreich und Spanien getreten.
Rückfall in Heinrich-Zille-Zeiten
Anderswo, in den Neubauten am Mehringplatz, rücken die Bewohner auf dem teuer gewordenen Raum enger zusammen. „Erst mal wird gespart – am Urlaub, am Essen“, hat auch Sandy Kaltenborn festgestellt. „Oder aber andere Familienmitglieder ziehen dazu.“ Bezirksbürgermeister Franz Schulz zeigt sich über diesen Rückfall in Heinrich-Zille-Zeiten entsetzt. „Die Zukunftschancen der Kinder sinken doch, wenn sie in der eigenen Wohnung keinen Ort mehr finden, wenn sie in Ruhe ein Buch lesen wollen“, warnt der Politiker.
Kreuzbergs Bevölkerungsstruktur war schon immer ein Politikum. Bis zum Mauerfall bekamen einige Türken in Berlin sogar einen Stempel in ihren Pass, der es ihnen untersagte, in Bezirke wie Kreuzberg zu ziehen. Mit dieser „Zuzugssperre“ wollte der Senat eine Gettobildung verhindern. Jetzt, wo steigende Mieten viele alteingesessene Migranten aus dem Bezirk verdrängen, vermuten nicht wenige von ihnen Absicht dahinter. „Die wollen keine Ausländer mehr hier haben“, lautet eine verbreitete Ansicht.
Noch aber prägen türkische Einwanderer das Bild des Bezirks, in dem die Bäckereien „Melek“ heißen und die Blumenläden „Dilek“. Viele von ihnen haben sich auf den Touristenstrom eingestellt, der sich jetzt tagtäglich zwischen Oranienstraße und Schlesischem Tor ergießt. Selbst ein klassisches türkisches Männercafé wie das Altin Köse am Oranienplatz bietet jetzt Bionade und Club-Mate an. Denn die Gegend ist zum Partykiez geworden, abends herrscht hier fast schon Ballermannstimmung. Das Dönerrestaurant Hasir, das keinen Alkohol verkauft, aber dafür rund um die Uhr geöffnet hat, hat deshalb kräftig erweitert, zuletzt eröffnete es gegenüber dem Stammladen noch einen Hamburger-Imbiss.
Die Ärmsten ziehen weg
Es sind die Ärmsten, die wegziehen müssen. Der türkische Mittelstand in Kreuzberg hingegen ist bislang von Verdrängung kaum betroffen. Allerdings, hat Bezirksbürgermeister Franz Schulz festgestellt, wohnen viele der erfolgreichen Migranten nicht mehr im Bezirk, sondern kommen nur noch zur Arbeit nach Kreuzberg.
Der Bauunternehmer Hüseyin Celik gehört zu diesem Mittelstand, aber seinem Bezirk ist er treu geblieben. An einem sonnigen Nachmittag steht er, mit mächtigem Schnurrbart und massivem Körperbau eine imposante Erscheinung, zwischen Betonmischer und Schubkarren auf einem Hof und dirigiert ein gutes Dutzend Arbeiter. Er hat das Haus erst kürzlich zu einem guten Preis gekauft – hier, im östlichsten Winkel von Berlin-Neukölln geht das noch.
Hüseyin Celik ist ungefähr so alt wie seine Landsmännin Nuriye Cengiz und lebt wie sie seit den Sechzigerjahren in Berlin. Damit aber enden schon die Gemeinsamkeiten. 35 Jahre arbeitete Hüseyin Celik als Polier, bevor er sich in den Neunzigerjahren selbstständig machte. Damals boten ihm die städtischen Wohnungsbaugesellschaften mitten in Kreuzberg, wo sich heute die touristischen Trampelpfade kreuzen, ganze Häuserzeilen zum Kauf an. „Ein Fehler“ sei es gewesen, bedauert er, damals nicht stärker zugeschlagen zu haben. „Aber ich hatte Angst, das Risiko erschien mir zu groß.“
Für seine Familie reichen die paar Häuser, die er jetzt besitzt, aber auch so. „Kreuzberg ist eine gute Ecke“, findet Hüseyin Celik. Anderswo müsse man schon dafür bezahlen, wenn man sich nur eine Zigarette borge. In Kreuzberg sei das anders: „Die Leute helfen sich gegenseitig“.
So wie jetzt am Kotti.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles