Genossen machen die taz: Nicht nur Oma Ayse ist besonders
Immer mehr Migranten werden in Deutschland alt und pflegebedürftig. Eine Reform der Pflegedienste ist überfällig – doch nicht nur ihretwegen.
BERLIN taz | Der Traum vieler türkischer MigrantInnen vom Lebensabend am Bosporus verblasst langsam. Die Generation der „GastarbeiterInnen“, die sich in der Bundesrepublik durch harte Arbeit und einen genügsamen Lebensstil genug Geld verdienen wollten, um in der ursprünglichen Heimat einen beschaulichen Lebensabend verbringen zu wollen, wird langsam abgelöst.
Jetzt finden sich immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland alt und pflegebedürftig werden. So langsam spricht sich diese Erkenntnis rum, und es gibt vor allem in großstädtischen Ballungsräumen oder in öffentlich geförderten Projekten Ideen zum Thema „Multikulti“-Pflege, zu interkultureller Öffnung und interkultureller Kompetenz.
Ambulante und stationäre Pflegeaufgaben sind körperlich und psychisch anstrengende Jobs mit ungünstigen Arbeitszeiten und gerade bei den ambulanten Pflegediensten eher karger Bezahlung, sarkastisch gesprochen ein klassischer Frauenberuf. Und übrigens einer der wenigen echten Berufe, bei denen es an Fachkräften mangelt. Und dieser Mangel wird zunehmen, weil die Menschen älter und gebrechlicher werden. Oma Ayse braucht Pflege genau so wie Opa Mehmet.
Weil familiär oder durch Haus- oder Wohngemeinschaften geprägte Unterstützungsstrukturen abnehmen, ist professionelle Pflege notwendig. Die häufig mit Angst besetzten Vorstellungen von Pflegeeinrichtungen hat der geniale Kabarettist Georg Schramm anschaulich geschildert: „Sind Sie auch Rentner? Pensionär sogar, noch besser. Heiminsasse oder freilaufend? Noch draußen. Schön für Sie. Da haben Sie ja das Schlimmste noch vor sich.“
54, Diplompädagoge aus Bad Vilbel in Hessen, taz-Genosse seit 1991.
Für Menschen mit Migrationshintergrund beinhaltet dieses „Schlimmste“ noch weitere Unwägbarkeiten. Kommt mit dem Pflegedienst plötzlich ein Mann, um die Mutter zu waschen? Und was ist eigentlich in dem „Essen auf Rädern“? Schweinefleisch? „Vor allem in städtischen Ballungsgebieten wie Frankfurt, Berlin oder dem Ruhrgebiet gibt es immer mehr betreuungsbedürftige Ausländer“, beobachtet auch Oliver Aitcheson vom Bundesverband Ambulante Dienste. „Viele Pflegedienste stellen deshalb gezielt ausländische Mitarbeiter ein oder spezialisieren sich.“
Mit Unterschiedlichkeit umgehen
Doch „gezielt ausländische Mitarbeiter“ einstellen macht aus der Not eine Tugend. Zwar ist es sinnvoll, die Einrichtungen interkulturell zu öffnen und auch die Mehrsprachigkeit zu nutzen. Besser aber wäre es, durch Qualifizierungen in interkultureller Kompetenz alle Pflegefachkräfte in die Lage zu versetzten, mit Unterschiedlichkeit umzugehen. Es sind ja nicht nur muslimische Frauen, die sich schämen, sich einem fremden Mann nackt zu zeigen, oder nur gläubige Muslime, bei denen die Schuhe ausgezogen werden sollen.
Das „Spezialisieren“ dagegen bringt gefährliche Entwicklungen hervor: In einem Gespräch mit Pflegedienstleitungen warb ein Bereichsleiter deutlich für „türkische Abteilungen“. Seitdem alle türkischen Menschen in einer Abteilung untergebracht seien, gebe es keine Probleme mehr. Das Stereotyp einer lärmenden Familienhorde wird hier massiv bedient und durch Separieren „gelöst“.
Wenn meine Schwiegereltern, die sich als Bauern und Bäuerinnen gegen Maschinenlärm und muhende Kühe verständigen müssen, mich besuchten, wären meine sämtlichen migrantischen FreundInnen nicht mehr zu hören. Und wer schon einmal Auseinandersetzungen von Aleviten mit Schiiten und Sunniten erlebt hat, nimmt spätestens dann Abschied von der kruden Vorstellung, das seien einheitlich agierende „Türken“ oder „Muslime“.
Das Ziel wäre also: Die Pflegekräfte sind genau so bunt, so kulturell, ethnisch und sozial unterschiedlich wie die zu Pflegenden. Damit ich mich auch im Ried-Dialekt über die grandiose Saison der Dortmunder Borussia im Jahre 2012 unterhalten kann.
Dies ist ein Text aus der Sonderausgabe „Genossen-taz“, die am 14. April erscheint. Die komplette Ausgabe bekommen Sie am Samstag an Ihrem Kiosk oder am eKiosk auf taz.de.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken