Gemeindeführer in Kolumbien über Frieden: „Waffenstillstand ist das Wichtigste“
Die kolumbianische Regierung und die ELN-Guerillas haben eine Waffenruhe vereinbart. Ein Grund ist: Die Zivilbevölkerung soll mitreden dürfen.
taz: Ein Ergebnis der Gesprächsrunden zwischen Kolumbiens Regierung und der ELN-Guerilla ist der Nationale Beteiligungsrat, in dem die Zivilgesellschaft mitredet. Ein Erfolg?
Die Beteiligung der Zivilgesellschaft haben wir uns erkämpft – bereits seit den Friedensverhandlungen mit der Farc-Guerilla. Wir mussten damals mobilisieren, sogar die Nord-Süd-Panamericana-Schnellstraße sperren, damit eine ethnische Vertretung zu den Verhandlungen der kolumbianischen Regierung und der Farc-Guerilla nach Havanna reisen durfte. Aber wir wollen viel mehr, denn nur wir wissen, was genau vor Ort passiert. Deswegen wollen wir in den Gesprächsrunden mit der ELN erreichen, dass die Zivilgesellschaft in die Entwicklung und Umsetzung der Vereinbarungen miteinbezogen wird.
ist ein afrokolumbianischer Anführer der Gemeinde Buenos Aires in der Region Cauca. Das Interview muss anonym erscheinen, denn er hat vier Attentate überlebt.
Warum ist das so wichtig?
Das mit der Farc-EP (kurz Farc) unterzeichnete Friedensabkommen von 2016 stagniert in der Umsetzung, weil es bei diesem Punkt Lücken hat. Die ehemaligen Guerilleros wurden in Wiedereingliederungscamps untergebracht. Aber dort konnten sie nicht für immer bleiben. Sie zogen dann in Gemeinden. Manche wurden abgelehnt, denn wenn ein Täter dort ankommt, wo jemand getötet wurde, dann besteht weiterhin ein Konflikt – besonders wenn es keinen Prozess der Vergebung oder des gegenseitigen Verstehens gab. Und wenn die Person, die in die Gemeinde ankommt, nicht weiß, wie Konflikte dort gelöst werden, macht sie das weiter wie im Krieg. Das gilt auch beim Lebensunterhalt. Wenn jemand es nicht anders gelernt hat und kein Geld hat, wird diese Person wahrscheinlich nicht einfach warten, bis die Maniokernte reif ist.
Seit einem Jahr hat Kolumbien den ersten linken Präsidenten, Gustavo Petro. Als größtes Ziel hat er den „totalen Frieden“ ausgerufen. Denn trotz des historischen Friedensabkommens zwischen Staat und Farc-Guerilla vor knapp sieben Jahren ist es noch ein weiter Weg dahin. Von den übrigen bewaffneten Gruppen ist die ELN-Guerilla die größte. Jetzt haben Regierung und Guerilla bis Ende Januar 2024 einen sechsmonatigen Waffenstillstand vereinbart. Ein weiteres Ergebnis der bisherigen bilateralen Gesprächsrunden nimmt parallel seine Arbeit auf: der Nationale Beteiligungsrat, um die Zivilgesellschaft am Schaffen des Friedens zu beteiligen.
Gibt es schon Ideen, wie sich das bei den Gesprächen mit der ELN verbessern lässt?
Ein Dokument zu einem Harmonisierungsprozess liegt bereits als Vorschlag vor. Wenn Menschen, die lange Krieg geführt haben, in Gemeinschaften ankommen, müssen sie lernen, wie diese funktionieren. Ohne eine Harmonisierung mit indigenen Räten, Gemeinderäten, bäuerlichen Reservaten, die jeweils ihre eigenen Regelungen und Rechtssysteme haben, wird es sehr schwierig sein, den „totalen Frieden“ zu erreichen. Die ehemaligen Kämpferïnnen müssen einen Einklang mit den Gemeinden, wo sie sich niederlassen wollen, finden können. Dafür ist wichtig, uns, die Basis, einzubinden.
Wie ist aktuell die Lage bei Ihnen in der Region Cauca bezüglich bewaffnete Akteure?
Die Situation ist sehr komplex. Es gibt unter anderem die bewaffnete Gruppe der Farc-Dissidenz namens „Segunda Marquetalia“ und auch die Gruppe „Rastrojos“ – organisierte Gruppen von Drogenhändlern. In manchen Gemeinden gibt es 20 Viertel, aber bis zu 27 bewaffnete Banden. Das Gebiet meiner Gemeinde Buenos Aires erstreckt sich bis zur Pazifikküste und zur Grenze mit der Stadt Buenaventura (mit dem wichtigsten Hafen Kolumbiens; Anm. d. Red.). Unsere Gemeinde Buenos Aires liegt also auf einer Route zum Meer und in einer Gegend mit viel illegalem Koka-Anbau (die Kokapflanze ist die Basis für die Kokainproduktion; Anm. d. Red.).
Wie erleben Sie die Gewalt?
Ich bin besorgt. Die verschiedenen bewaffneten Akteure rekrutieren viele Kinder, außerdem kämpfen sie untereinander. Mehrere soziale Anführerïnnen wurden ermordet. Allein bei uns gibt es 536 Familien, die vertrieben wurden und in Notunterkünften leben. Auch die Zunahme des Koka-Anbaus beunruhigt mich. Früher wurden in unserer Gegend viel mehr Zitrusfrüchte, Maniok, Mais, Bananen und Reis angebaut. Obst und Gemüse lohnen sich nicht mehr: Die Produktion von Bananen kostete doppelt so viel wie sie auf dem Markt einbrachte, bei Maniok war es achtmal so viel. Der Verlust war enorm.
Lohnt sich der Koka-Anbau denn immer noch?
Gott sei Dank stagniert er in meiner Gegend seit dem Regierungswechsel (Gustavo Petro ist seit August 2022 Präsident Kolumbiens; Anm. d. Red.). Die Kokablätter werden auch nicht mehr geerntet. Menschen haben begonnen, wieder Bananen, Mais und Maniok anzubauen. Aber bis zur ersten Ernte ist noch viel Zeit.
Hat das wirklich mit der Regierung zu tun? Gab es spezielle Aussteigerprogramme oder liegt es daran, dass der Preis für Koka aufgrund der Überproduktion gesunken ist?
Unsere neue Regierung hat bei uns einige korrupte Militäroffiziere aus dem Weg geräumt. Somit wurden Lieferketten mit den Drogenhändlern unterbrochen. Denn die Armee sorgte für den Drogenexport ins Ausland. Die Schuld gab zwar das Militär den Gemeinschaften, die anbauten. Doch die Armee sicherte die Lieferwege – über Wasser und Luft.
Was waren die konkreten Folgen für Ihre Gemeinde?
Der Koka-Anbau ist jetzt nicht mehr rentabel. Früher brachten etwa 11,5 Kilo Koka umgerechnet etwa 18 Euro, jetzt sind es unter 5 Euro. Deshalb sind unsere traditionellen Anbauprodukte wieder attraktiv geworden.
Welche weiteren Maßnahmen wären nötig?
Unser Traum ist eine Agrarreform. Das Land befindet sich in den Händen von Großgrundbesitzern: Wir müssen es an die Gemeinden verteilen. Hauptsächlich werden auf dem Land der Großgrundbesitzer bei uns Zuckerrohr, Eukalyptus und Kiefern angebaut. Dabei könnte dieses Land der Ernährung der Bevölkerung dienen und uns helfen, international wettbewerbsfähig werden.
Und dafür muss man zunächst die bewaffneten Gruppen loswerden?
Genau, denn diese Akteure werden zum Teil von den Großgrundbesitzern finanziert.
Wie geht es jetzt weiter im Friedensprozess?
Das Wichtigste ist zuerst der Waffenstillstand bis Ende Januar. Denn der Soldat, der stirbt, der ist der Sohn einer Bäuerin, einer indigenen, einer afrokolumbianischen Mutter, genau wie der Guerillero, der stirbt. Nicht die Reichen sterben in diesem Krieg. Zweitens: Regionale Arbeitsgruppen kommen jetzt zusammen. So werden wir die bewaffneten Strukturen besser kennenlernen, um sie dann in die Gesellschaft integriert zu können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!