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Gehörlose Piraten-Politikerin beschimpftUrlaub gegen den Hass

Die gehörlose Piraten-Politikerin Julia Probst wurde im Netz wüst beschimpft: weil sie auch mit ihrer Stimme statt nur mit Gebärden sprach. Nun nimmt sie eine Auszeit.

Damals noch gut gelaunt: Julia Probst auf der re:publica. Bild: Dirk Haeger / CC-BY

BERLIN dpa | Julia Probst, eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Internet-Szene in Deutschland hat sich nach heftigen Beschimpfungen zu einer Auszeit entschlossen. Die gehörlose Lippenleserin und Bundestagskandidatin der Piraten teilte mit, dass sie bis zum Jahreswechsel bei Twitter einen „Urlaub“ einlege.

Dort ist sie mit ihrem Netznamen „einAugenschmaus“ unterwegs. Am Montag meldete sie sich noch einmal kurz zurück, um besorgten „Followern“ bei Twitter zu sagen, //twitter.com/EinAugenschmaus/status/275496553144262656:dass es ihr gut gehe. „Ich nehme mir aber eine Auszeit und schaue dann, wie es weitergeht.“ Ihren Twitter-Nachrichten folgen mehr als 22.000 Menschen.

Nach einem Auftritt in der -Ist-die-Schwärmerei-vorbei:ZDF-Sendung „log in“ war die 31-Jährige in der vergangenen Woche von mehreren Internet-Nutzern beleidigt worden. Einige forderten, sie solle sich auf die Gebärdensprache beschränken oder ihre Aussagen vorlesen lassen. „Die wollen mir vorschreiben, wie ich aufzutreten habe“, sagte Probst. „Meine Stimme ist nicht perfekt – aber sie ist eben meine Stimme.“

Bekannt wurde Probst während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika, als sie den deutschen Fußballern während der Spiele von den Lippen ablas und ihre Aussagen twitterte. Seit rund fünf Monaten setzt sie sich bei der Piratenpartei für Barrierefreiheit und Inklusion ein – das Konzept der Inklusion tritt als Gegenmodell zur Integration dafür ein, Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Menschen von vornherein als positive Werte zu akzeptieren. Auf der Landesliste der Piraten in Baden-Württemberg steht Probst auf Listenplatz drei. Käme sie in den Bundestag, wäre sie die erste gehörlose Bundestagsabgeordnete.

Nach den Beleidigungen habe sie zunächst auch mit dem Gedanken gespielt, sich auch von der Landesliste streichen zu lassen, sagte Probst. Die Piratenpartei stellte sich hinter ihre Kandidatin. „Es empört uns zutiefst, dass ein Mensch, der seine Stimme frei und selbstbewusst erhebt, für diese Tatsache von anderen Menschen kritisiert wird“, hieß es in einer gemeinsamen Mitteilung der Bundespiraten mit dem Landesverband Baden-Württemberg. Auf Twitter lösten die Vorfälle eine Welle der Sympathie- und Solidaritätsbekundungen aus.

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7 Kommentare

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  • KL
    Kristin Lehmann

    Sie ist nicht gehörlos, sondern spätertaubt.

  • O
    Ohrenkuss

    Verona Poot durfte auch ins Fernsehen und wurde für ihre Stimme sogar bezahlt...

  • M
    Mikki

    Gib den Menschen ein Medium, in dem sie sich anonym tummeln können, setze ihnen eine Minderheit vor, seien es Behinderte oder z.B. Asylanten, gib der Minderheit eine Plattform und Du erhältst - garantiert - polemische, aggressive, beleidigende und bedrohende Reaktionen der "Netz-Terroristen". Nachzulesen in keinem schlauen Buch, sondern tagtäglich z.B. in den Kommentaren von Online-Medien, aber vorzugsweise auch in Foren zu welchen Themen auch immer. Oftmals ist das ursprüngliche Thema schon nach wenigen Kommentaren oder Foren-Replies bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.

    Es würde sich lohnen, hierüber mal in großem Stil zu forschen. Dann würden wir vermutlich auch auf die Ursachen stoßen, die 33-45 ermöglicht haben und ... vielleicht auch darauf, dass auch heute noch eine latente Anfälligkeit für solche Tendenzen besteht.

    Zu weit gegriffen ? Glaube ich nicht, auch das Dritte Reich sicherte sein Entstehen und seinen Bestand mit den kleinen Überwachungen und Diskriminierungen des täglichen Lebens.

    @EinAugenschmaus wird an diesem ersten "Gegenwind" aber stark werden, und weitere Anhänger bekommen, das sieht man im Netz jetzt schon. Auch diese Erkenntnis gehört dazu: Die "Netz-Terroristen" sind oftmals auch überdurchschnittlich dumm und haben nicht auf dem Radar, dass sie durch ihr Handeln das Gegenteil dessen bewirken, was sie eigentlich erreichen wollten.

  • K
    Klischeepunk

    @Torsten & Rest:

    Jule selbst betont, dass die Angriffe _NICHT_ von Piraten kommen. Wir stehen im Großen und ganzen hinter ihr, wie du sehen könntest wenn du auf die verlinkten Beiträge des Landesverbandes & des Bundes geklickt hättest.

  • Z
    Zafolo

    Dazu muss man noch sagen, dass viele von uns diese Äußerungen gegen Julia als stark diskriminierend wahrgenommen haben. Das war klar unter der Gürtellinie.

     

    Es ist eigentlich auch ein grundsätzliches Theme für uns Piraten. Wir haben viele Mitglieder, die Minderheiten angehören, Menschen wie Julia, Queers, Menschen mit wenig Einkommen, Menschen die eher unkonventionellen Lebensformen folgen. Einige arbeiten sogar beim Verteidigungsministerium. Wir finden es ganz panne, wenn Ewiggestrige und/oder politische Gegener versuchen, diese Unterschiede zu nutzen um uns gegeneinander auszuspielen.

     

    Und leztztlich sind wir stolz auf diese Vielfalt. Genau darum geht es bei Inklusion: Unterschiede sind nicht etwas, was weggemacht und repariert werden muss, sondern etwas wertvolles und zutiefst menschliches.

  • T
    Torsten

    Traurig. Lasst die Frau doch so auftreten, wie SIE es für richtig hält. Toleranz ist bei den Piraten wohl wirklich Mangelware. Für mich sind sie daher nicht mehr wählbar.

    Demnächst wird noch bei den Piraten darüber gelästert, wer eine zu große Nase oder "zu blaue" Augen hat.

  • T
    T.V.

    das ewig gleiche Probleme: Mehrheiten diskriminieren Minderheiten und Minderheiten sich untereinander gleich mit. Irgendwie glaub ich dieser Forschung die meinte, daß die Neandertaler noch schlauer waren als wir.