Gehörlose Parlamentarierin: "Ich bin kein leiser Typ"
Die Wienerin Helene Jarmer hört nichts, seit sie zwei Jahre alt ist. Seit Juli sitzt sie für die Grünen in Österreichs Parlament und zeigt den Abgeordneten, wie reich Gehörlosensprache sein kann.
Als Helene Jarmer zwei Jahre alt war, verlor sie bei einem Autounfall ihr Gehör. Der Schicksalsschlag hat zwei Seiten. Zum einen trennte er sie von den Hörenden. Denn eines wird über die Gehörlosen immer wieder gesagt: Blindheit trennt von Dingen, Gehörlosigkeit von Menschen. Zum anderen machte der Unfall sie zu einer Gleichen mit ihren Eltern. Denn diese sind auch gehörlos. Helene Jarmers Muttersprache ist die Gebärdensprache.
Jarmers Eltern bieten ihrer Tochter jede erdenkliche Unterstützung, die Gehörlose brauchen, um sich in der hörenden Welt zu behaupten. Helene Jarmer schafft es, einen akademischen Abschluss zu machen. Das kommt bei Gehörlosen nicht oft vor. Denn der Zugang zu Bildung ist eine der größten Hindernisse für Gehörlose. Die Lautsprache ist für sie in erster Linie eine Kommunikationsform, die sie sich mühsam wie eine Fremdsprache aneignen müssen. Trotzdem werden sie in der Lautsprache beschult.
Auf Gedeih und Verderb sollen sie durch Lippenablesens mit den Hörenden kommunizieren. Dabei ist die Missverständnisquote enorm. Nur etwa 30 Prozent kann man durch Lippenablesen verstehen. Trotzdem ist die Unterrichtssprache an Gehörlosenschulen im deutschsprachigen Raum in der Regel Deutsch und nicht die Gebärdensprache. Bis heute gilt in Österreich, dass Lehrer und Lehrerinnen an Gehörlosenschulen die Gebärdensprache nicht beherrschen müssen. "Das ist so, als wären Sie in der Schule von Lehrern unterrichtet worden, die eine x-beliebige Sprache sprechen, nur nicht Ihre", sagt Jarmer.
Mehr über Laute und Gebärden, Musik und Stille, Ausflüchte und Direktheit erzählt Helene Jarmer im sonntaz-Gespräch. Am 26./27.September am Kiosk.
Seit Jahren fordern Gehörlose nicht nur in Österreich, dass nicht-hörende Kinder in der Gebärdensprache beschult werden. Denn etwa zwei Drittel der Gehörlosen gelten nahezu als Analphabeten. Der Zwang, Bildungsinhalte in der Lautsprache aufnehmen zu müssen, wird dafür verantwortlich gemacht.
In diesem Streit müssten die Stimmen der Gehörlosen umso mehr zählen. Helene Jarmer ist eine solche Stimme. Sie wird Sonderschullehrerin und später auch Dozentin an der Wiener Universität im Fachbereich Gehörlosenbildung. Gegen die Widerstände ihres Kollegiums war sie die erste gehörlosen Lehrerin an einer Gehörlosenschule in Österreich. Sie hat sich für den bilingualen Unterricht für gehörlose Kinder stark gemacht.
Jarmer hat sich schon früh in der österreichischen Gehörlosenszene engagiert. Seit 2001 ist die Vorsitzende des Österreichischen Gehörlosenbundes. Deren Arbeit ist es zu verdanken, dass die Gebärdensprache in Österreich seit 2005 als Minderheitensprache anerkannt ist. (In Deutschland ist sie seit 2002 anerkannt.) Bei der letzten Wahl zum österreichischen Parlament war Jarmer Kandidatin auf der Liste der Grünen. Als Nachrückerin zog sie diesen Sommer ins Parlament ein - als eine von sieben gehörlosen PolitkerInnen weltweit.
Hier ein Videomitschnitt ihrer ersten Rede im österreichischen Parlament:
Diese Rede war fulminant: Sie nutzte ihn für eine Lektion in Gebärdensprache. Und noch etwas ist plötzlich möglich: Die Forderung, Abgeordnetenhausdebatten in die Gebärdensprache zu übersetzen, ist nun nicht mehr mit Ausreden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu vertagen: "Bisher ist es so, dass die Gehörlosen alles tun müssen, um von den Hörenden verstanden zu werden. Jetzt ist die Situation umgedreht: Jetzt müssen auch die Kollegen im Parlament daran arbeiten, dass sie mit mir in Kommunikation treten können."
Im sonntaz-Gespräch erzählt sie, wie schwierig es ist, die Grenzen zwischen der hörenden und der nichthörenden Welt zu durchbrechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr