■ AUS POLNISCHER SICHT: Gehirnschlußgesetz
Es wird in Berlin gesagt, daß man nach Polen nicht fahren solle: Alles, was nicht festgenagelt sei, werde dort sofort gestohlen. Auch lohne sich die Abkürzung nach Ungarn über Polen eigentlich nicht, weil aus den Wäldern plötzlich wilde Horden mit großem Schrei kämen, um alle wehrlosen Deutschen gnadenlos zu überfallen. Diese Lebensweisheiten beruhen sicherlich auf eigenen Erfahrungen, und meine persönlichen Eindrücke können ihnen in keiner Weise widersprechen: daß weder mir noch einem meiner Bekannten solche bösen Abenteuer passieren, ist wahrscheinlich einem Zufall zuzuschreiben.
Komisch nur, daß man im polnischen Grenzgebiet eigentlich mehr Deutsche als Polen sieht, und anscheinend sind sie alle ziemlich zufrieden. Zwar leiden sie unter vielerlei Lasten, meistens Haushaltsartikeln, Fahrrädern, Korbwaren und allerlei Kram, doch lachen sie eher, als daß sie weinten. Vielleicht ist dafür das genialste aller deutschen Gesetze verantwortlich, das Ladenschlußgesetz.
Die Polen haben ein Rechtssystem mit so vielen Kanten und Löchern, daß man kaum eine Fläche finden kann, wo sich ein Unternehmer oder auch ein einfacher Bürger ausruhen könnte, die Mutter aller Gesetze, das Ladenschlußgesetz, haben sie sich jedoch nicht geleistet.
Und schon mit diesem kleinen Mangel sind sie den Deutschen ein Lichtjahr voraus: diese chaotischen, schlechtorganisierten Slawen sind in der Lage, locker und streßfrei — so lange sie die nötige Pinke vorrätig haben (und das haben inzwischen erstaunlich viele von ihnen) — nach Lust und Laune rund um die Uhr einzukaufen. Es gibt keine schönere Ansicht für einen der deutschen Vorurteile müden Polen, als gegen 20 Uhr am Donnerstag in einem Warenhaus, zum Beispiel IKEA, die Deutschen zu beobachten. Wie diese Masochisten eigene Lebensqualität frei und ohne fremde Einmischung mit Füßen treten, wie sie Menschenrechte des Verbrauchers — und jeder Mensch ist einer, ob er das will oder nicht — massiv verletzen. Nachdem man in den Zeiten der Volksrepublik alle polnischen Berlinbesucher in die Gourmetetage des KaDeWe führte, sollte man sie nun am liebsten Donnerstag abend nach IKEA mitnehmen. Einfach so. Zur Verbesserung ihres Selbstbewußtseins. Piotr Olszowka
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