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Gegenentwürfe Mangelware

„Die ganz Depressiven haben wir aussortiert“: Orientierungs-, Kommunikations- und Bindungslosigkeit sind die Themen des diesjährigen Regisseur-Nachwuchsfestivals „Die Wüste lebt“

von ANNETTE STIEKELE

Wir leben im Zeitalter der „Losigkeit“. Der Gedanke drängt sich auf, wenn man die eingereichten Skripte des diesjährigen Theaternachwuchsfestivals „Die Wüste lebt“ sichtet. Arbeitslosigkeit, Orientierungslosigkeit und Bindungslosigkeit starren einem entgegen. „Die ganz Depressiven haben wir aussortiert“, so Kammerspiele-Intendant Ulrich Waller bei der Vorstellung des Programms. Viele Regisseure begreifen sich als Opfer der Verhältnisse, „Potenzial für einen Gegenentwurf ist Mangelware“, so Waller.

Ein weiterer Trend: die „Bewegung hin zum Text“, die Jurymitglied Barbara Müller-Wesemann von der Universität Hamburg beobachtet hat. Waller spricht gar vom „Abgesang auf die Dekonstruktion“. Vom 27. Juni bis zum 6. Juli heißt es zum siebten Mal „Die Wüste lebt“. Kammerspiele und Universität laden zum Festival junger Regisseure und Schauspieler ins Amerikahaus. Die letzte Spielzeit unter Ulrich Waller und Ulrich Tukur bricht an, und damit ist auch die Zukunftder dort etablierten Festivals ungewiss, aber „wir versuchen, Kabarettfestival und „Wüste“ so fit zu machen, dass sie an anderer Stelle auf eigenen Füßen weiterleben können“, erklärte Waller.

Seit 1996 dient das Festival in den Hamburger Kammerspielen dem Regienachwuchs als Spielwiese. Ausprobieren ist gefragt, Radikalität, Wagnis. Das waren auch die Kriterien der Jury, bestehend aus Ulrich Waller für die Kammerspiele, Barbara Müller-Wesemann vom Institut für Theaterwissenschaften der Universität Hamburg, dem Germanisten und Musikwissenschaftler Jochen Brachmann und NDR-Redakteur Michael Lages.

Traten 1996 noch sechs Hamburger Produktionen und ein Gastspiel an, sind diesmal nur drei Hamburger Produktionen und sechs Gastspiele vertreten. „Das hat sich aus der Art der Zusendungen ergeben, die von allen renommierten Regieschulen kamen“, so Barbara Müller-Wesemann. Aus den 40 Einsendungen dieses Jahres hat die Jury acht Produktionen ausgewählt. Wichtig war dabei die Kunst, mit einem Gegenwartsstoff radikal umzugehen oder einem oft inszenierten Stück wie Shakespeares Sommernachtstraum neue Sichtweisen abzugewinnen. Eine ungewöhnliche Form wählten die Gießener Studenten Bernhardt Herbordt und Melanie Mohren. In ihrem Audiotheater World in a box lauschen zwei Hörer in einem Container einer unterschiedlichen Tonspur und werden zu Handlungen verführt. An den Sommernachtstraum wagt sich die Hamburger Absolventin Jorinde Dröse, gerade erfolgreich bei den Autorentheatertagen des Thalia Theaters.

Ebenfalls aus Hamburg stammt Notes from Underground von Andreas Kebelmann und Roger Vontobel. Hier belauert der Zuschauer einen jungen Mann bei der Sinnsuche in seiner beleuchteten Wohnung. Ludger Lemper, Absolvent aus Wien, personifiziert in Mercedes von Thomas Brasch das Scheitern der Visionslosen von heute. In Fluchtpunkt von Jessica Goldberg, inszeniert von der Frankfurterin Ragna Kirck, scheitern gleich vier Figuren an ihrer Orientierungs- und Kommunikationslosigkeit. Der reinen Sprachperformance widmet sich Fürsprecher des jungen Berliner Regisseurs Jan-Philipp Possmann. Die Rückkehr zum Text zeigt sich bei der Schweizerin Hannah Steffen mit Parasiten von Marius von Mayenburg. Die Hamburgerin Hanna Rudolph denkt in Spätlese den Roman Das Muschel-essen von Birgit Vanderbeke weiter. Und am Schluss noch ein Sahnebonbon: Die Kalifornier Dan Wolf und Tom Shepherd zeigen in Beatbox: A Raparetta eigenwilliges Rap-Theater. Ganz ohne Schauspielschule.

World in a box: 27.6.–6.7., täglich außer Montag ab 18 Uhr. – Ein Sommernachtstraum: 27.+28.6., 20 Uhr. – Notes from Underground: 28., 29.+30. 6., 22 Uhr. – Mercedes: 29.+30.6., 20 Uhr. – Fluchtpunkt: 2.7., 20 Uhr sowie 3.7., 22 Uhr. – Fürsprecher: 3.7., 20 Uhr sowie 4.7., 22 Uhr. – Parasiten: 4.7., 20 Uhr sowie 5.7., 22 Uhr. – Spätlese: 5.+6.7., 20 Uhr. – New Roots to HipHop Beatbox: A Raparetta: 6.7., 21.30 Uhr. Alle im Amerikahaus. Programm auch unter www.hamburger-kammerspiele.de

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