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Gefühl Die Münchner bringen weiter Teddys, die Kanzlerin schaut freundlich. Im Erzgebirge fürchtet man sichWie weit reicht die Empathie?

von Sebastian Erb, Tobias Krone, Quentin Lichtblau, Viktoria Morasch, Maria Rossbauer und Benno Stieber

Auf einmal verbreitet sich da dieses Gefühl. Bilder transportieren es, sie berühren einen beim Fernsehen, auf Facebook und Twitter. Man hört es auch, das Gefühl: wenn die Kanzlerin spricht, vom freundlichen Gesicht dieses, ihres Landes. Ganz besonders hört man es an einem Sonntagnachmittag im September, als am Münchner Hauptbahnhof immer mehr Flüchtlinge ankommen, Tausende. Es ist ein Klatschen, Applaus. Und am nächsten Tag sieht es die ganze Welt. Die New York Times schreibt auf ihrer Titelseite: „Germany welcomes thousands of weary migrants“, „Deutschland heißt Tausende erschöpfter Migranten willkommen“. Ein Foto zeigt jubelnde Flüchtlinge und Peace-Zeichen derjenigen, die auf sie warten.

Empathie ist die Fähigkeit, den Schmerz, die Freude der anderen nachzuempfinden, sich in ihre Situation zu versetzen. Und der Impuls, zu helfen. Gerade ist es zur Weltnachricht geworden, wie dieses Gefühl Deutschland bewegt. Immer verbunden mit der Frage, wann die Stimmung kippt.

In München am Hauptbahnhof werden auch in dieser Woche Kuscheltiere und Rucksäcke voll Zahnpasta über die Absperrgitter gehoben – die Menschen wollen geben, wenn sie gerade nicht helfen können. Auch wenn das Zahnpasta-Depot mal wieder voll ist und der Plüschtierberg überquillt. Einer Frau in Steppjacke, Anfang 60, merkt man die Routine schon an. Geduldig lässt sie sich vom Studenten an der Schleuse sagen, was gerade wirklich gebraucht wird: Datteln und Feigen sind gefragt, Isomatten und Decken gehen immer. Die Frau nickt und macht sich auf den Weg zum Supermarkt.

Die Empathie ist in der bayerischen Landeshauptstadt weiter so groß, dass viele, die helfen wollen, gar nicht können. 5.000 Freiwillige haben sich bis Anfang dieser Woche registriert. Es sind zu viele, um sie noch persönlich zu koordinieren. Also behelfen sich die Organisatoren mit langen Onlinelisten, auf die sich Helfer zu Schichten eintragen.

Komische Tage sind das, findet Inci Tepeli, die 21 Jahre alt ist, die studiert und auch etwas tun will. Immerhin kann sie Türkisch, wenn auch kein Arabisch. Aber an der Messehalle, dem riesigen Auffanglager am Münchner Stadtrand, konnte man auch sie nur auf die Internet-Registrierung verweisen. Komisch sind diese Tage für sie auch, weil sie die Leute in der U-Bahn anders ansehen als sonst. Mitleidig irgendwie. Manche sprechen sie auf Englisch an. Irgendwann ist ihr klar geworden, dass die denken, sie sei auch geflüchtet. „Dabei bin ich doch in München geboren“. Es wirkt, als wolle sie auch deshalb so hartnäckig helfen, weil sie dieses Missverständnis ausräumen will.

Über Empathie „Es ist ein sehr mächtiges Gefühl. Es bringt Menschen dazu, unglaublich soziale Dinge zu tun“Emile Bruneau, Neurowissenschaftler

Die Empathie, manchmal nimmt sie seltsame Formen an. Und auch in München fragen sich Organisatoren, wie lange sie noch halten wird.

Die Schulferien sind zu Ende, bald auch die Semesterferien. An diesem Samstag beginnt das Oktoberfest. Tausende Betrunkene werden abends auf den Hauptbahnhof drängen und dort auf Flüchtlinge treffen. Die Festwiese als Flüchtlingslager? Diese Idee wurde schnell verworfen. Auf ihr Fest bestehen die Münchner dann doch.

Die Party am Bahnhof ist inzwischen vorbei. Der große Applaus ist dem üblichen Bahnhofsgegurgel gewichen und die Bundesregierung hat wieder Grenzkontrollen eingeführt.

Aber an der Bahnhofshalle steht plötzlich wieder ein Mann, mit 60 Portionen Lammfleisch im Auto – gestiftet von dem syrischen Restaurant, in dem er arbeitet: „Ich kenne doch die Situation in meinem Land. Ich muss den Leuten hier helfen.“ Morgen wird er wiederkommen. Auch wenn das Gesundheitsamt es nicht so gern sieht, wenn Privatleute Essen bringen. Auch wenn die New York Times nicht mehr berichtet.

Empathie wird nicht mehr verordnet, sie ist da

Von einem „Septembermärchen“ hat die sonst eher nüchterne Grüne Katrin Göring-Eckardt gesprochen. Das letzte Märchen war das Sommermärchen der Fußballweltmeisterschaft 2006. Wieder dürfen die Deutschen stolz auf sich sein. Vizekanzler Sigmar Gabriel trägt einen Anstecker der Bild-Zeitung, auf dem steht: „Wir helfen“.

Die Politik hat dieses Gefühl aufgenommen. Wenn Gefühle Politik machen, sind sie meist an Bilder geknüpft. Die Klimakanzlerin und die Eisbären. Der Atomausstieg und die dampfenden Reaktoren von Fukushima. Im Fall der Flüchtlinge waren es zunächst die Boote, die Leichen im Mittelmeer, Lampedusa, Mazedonien, Aleppo.

Doch kein Bild hat so berührt wie das von Ailan Kurdi, dem kleinen Jungen, der tot am Strand von Bodrum lag. Nicht verwundet, das kleine rote T-Shirt verrutscht wie im Schlaf, die Handflächen nach außen gedreht. In diesem Kind erkannte jeder sein eigenes, oder sich selbst. Niemand kam um dieses Bild herum. Auch die Politik nicht.

Der britische Premier David Cameron willigte ein, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, wenn auch nur ein paar wenige mehr. Eine Zeitung startete daraufhin eine Petition, die Cameron dazu zwingen soll, die Zahl zu erhöhen. Die Petition verwendet das Bild von Ailan Kurdi: mehr als 380.000 Unterschriften.

Vielleicht ist das das Neue. Empathie wird nicht mehr verordnet, wie 2000 von einem SPD-Kanzler namens Gerhard Schröder, der zum Aufstand der Anständigen aufrief. Sie kommt größtenteils aus der Bevölkerung.

Politiker könnten das nutzen. Selten teilen sie nicht nur Meinungen, sondern Gefühle mit der Bevölkerung, Millionen glauben, verstanden und gehört zu werden. Eine bessere Ausgangslage für Reformen gibt es eigentlich nicht.

Am Dienstagmittag um 14 Uhr treten die Bundeskanzlerin und der österreichische Kanzler in Berlin vor die Presse. Angela Merkel spricht wieder von diesem Gefühl, das in München zu sehen war. Aus dem Herzen der Menschen sei das gekommen.

Empathie – wer sagt es wie?

Der Christ:„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr.“ (Die Bibel, 3. Mose 18)

Der Linke: „Hoch die internationale Solidarität!“ (Demoslogan)

Der Schlager: „Im Notfall komm zu mir, ich werd‘ dich beschützen vor der bösen Welt. Ich habe einen Platz für uns allein. Hey komm unter meine Decke und dann mach es dir bequem.“ (Gunter Gabriel, Komm‘ unter meine Decke)

Der Verkehrspolizist: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“ (StVO, § 1)

Der Muslim: „... erweiset Güte den Eltern, den Verwandten, den Waisen und den Bedürftigen, dem Nachbarn, der ein Anverwandter, und dem Nachbarn, der ein Fremder ist, dem Gefährten an eurer Seite und dem Wanderer und denen die eure Rechte besitzt.“ (Koran, Sure 4, 36)

Der Politiker: „Es ist keine Frage „ob“, sondern „wie“ wir helfen können. Courage, wenn Sie es so bezeichnen wollen.“ (Dieter Reiter, Oberbürgermeister von München, im taz-Interview. In voller Länge unter www.taz.de/reiter)

Merkel ist hart kritisiert worden, dafür, dass sie die Flüchtlinge willkommen hieß. Das locke doch immer noch mehr an. Nun bekennt sie sich noch einmal zum neuen Deutschlandbild. Sie sagt diesen einen Satz: „Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Sie müsse das mal „ganz ehrlich“ sagen, stellte die Kanzlerin fest. Dieser Satz steht jetzt da, Hashtag auf Twitter: „dasistnichtmeinland“.

Im Oktober 1992 sah es anders aus in ihrem Land. 96 Prozent der Deutschen hielten es für wichtig, das „Problem der Ausländer in den Griff zu bekommen“. Asylbewerber, dachte eine deutliche Mehrheit, missbrauchen das Sozialsystem. Heute wollen knapp zwei Drittel der Deutschen weiterhin genauso viele oder sogar mehr Flüchtlinge aufnehmen wie bisher. Das zeigen Umfragen von infratest dimap für die ARD.

1992 gab es 440.000 Asylbewerber. In diesem Jahr erwartet die Bundesregierung 800.000 Flüchtlinge, mindestens. Vizekanzler Gabriel spricht schon von einer Million.

„Andererseits“, sagt ein Meinungsforscher bei infratest dimap, „äußern vier von zehn Deutschen Angst vor Flüchtlingen, also mehr als 20 Millionen Menschen“. Ihm macht das Sorgen. Das Thema jedenfalls beschäftige die Menschen, „so stark wie kaum ein anderes in den vergangenen 10 bis 15 Jahren“. Die Deutschen unterscheiden nun stärker, wenn es darum geht, warum jemand zu uns kommt. Menschen, die vor dem Krieg fliehen, wollen nahezu alle aufnehmen. Menschen aber, „die in ihrem Heimatland keine Arbeit und kein Auskommen haben“, lehnen zwei Drittel ab.

Es geht um Gefühle in diesen Tagen und es geht um ihren Widerstreit. Es gibt nicht wenige in Angela Merkels Partei, die Angst für die deutlich stärkere Empfindung halten als Empathie.

„Das Problem an der Empathie ist, dass sie flexibel ist“, sagt Emile Bruneau. Er ist Neurowissenschaftler und hat bis vor Kurzem am renommierten Massachusetts Institute of Technology, dem MIT, in Boston geforscht. Gerade ist er mit seiner Familie nach Philadelphia gezogen. Für ein Jahr ist er Gastprofessor an der University of Pennsylvania. Bruneau, 42, groß, dunkle Haare, blaue Augen, kommt mit dem Fahrrad zum Gespräch ins Café in Philadelphia. Seit sechs Jahren versucht der Wissenschaftler herauszufinden, wie man Menschen vor ihren Konflikten miteinander bewahrt. Dabei stieß er auf die Empathie.

„Empathie ist ein sehr mächtiges Gefühl“, sagt er. „Es bringt Menschen dazu, unglaublich soziale Dinge zu tun.“ Wie das Leben für andere aufzugeben oder sich selbst in Gefahr zu bringen, um zu helfen. Gleichzeitig aber lässt sie sich schwer lenken: Menschen gehen an einem Obdachlosen vorbei und empfinden überhaupt nichts, zwei Minuten später sehen sie ein kleines Kind vom Fahrrad fallen und sind von Mitgefühl überwältigt. Oder: Sie sehen Menschen auf dem Mittelmeer zu Hunderten sterben, weit entfernte Obdachlose, die vor dem Krieg fliehen. Dann sehen sie dieses Kind, eines von vielen, erfahren seinen Namen: Ailan Kurdi. Und plötzlich ändert sich etwas.

Wer also bekommt unser Mitgefühl, wer nicht? Und warum?

Ein Problem sieht Bruneau darin, dass wir sehr schnell andere Menschen danach einteilen, ob wir sie in unserer Gruppe wähnen oder nicht. Er nennt das: In-Group und Out-Group. Dieses Gruppendenken ist ein evolutionäres Überbleibsel, das vielleicht vor Tausenden von Jahren Sinn hatte. Gehört der zu meinem Rudel, wird er auch mein Überleben sichern, also muss ich mich um ihn kümmern. Tut er es nicht, bedeutet er vermutlich Gefahr.

Guter Wille kann schaden, sagt der MIT-Forscher

Die Welt hat sich geändert, unsere Gehirne allerdings reagieren noch auf dieselben primitiven Reize wie eh und je. „Das kann man ganz schnell im Labor herstellen“, sagt Bruneau. Man braucht nur ein paar Menschen in rote und blaue T-Shirts zu stecken. Schon teilen sie ein: Der gehört zu mir, der nicht.

„Guter Wille und politisches Engagement sind also nicht genug“, sagt Bruneau. „Im Gegenteil, sie könnten auch mal genau das Falsche verursachen.“

Ein Training der puren Empathie kann uns also nicht zu einem besseren Zusammenleben verhelfen. Denn viel Empathie für die eigene Gruppe motiviert manchmal erst dazu, etwas für sie zu unternehmen – und gegen andere. Selbstschutz. So wie im Erzgebirge in Sachsen.

In Johanngeorgenstadt an der tschechischen Grenze kann man die Grenzen der Empathie erfahren. Der Stadtrat hat sich dort vor drei Wochen gegen eine neue Flüchtlingsunterkunft ausgesprochen, einstimmig. Mit den Stimmen von SPD, CDU, Linkspartei und einer lokalen Wählervereinigung.

Am Rathaus von Johanngeorgenstadt haben sich an diesem Montagabend 200 Leute in einem Halbkreis aufgestellt. Das Rathaus ist eine ehemalige Kaserne, von der der Putz bröckelt. Es liegt nicht weit von der größten Weihnachtspyramide der Welt, auf die sie hier stolz sind. Über der Eingangstreppe hängt ein Transparent: „Was der Uranbergbau nicht geschafft hat, schafft die Asylpolitik“, steht drauf. Und: „Nein zur Massenunterkunft in Jo’stadt“. Wegen des Abbaus von Uran mussten in den 50er Jahren etliche Häuser in der Altstadt abgerissen werden.

Zum sechsten Mal protestieren sie hier. Es sind Menschen, die Angst haben, dass es mit den Flüchtlingen so wird wie bei der Wiedervereinigung: erst Euphorie, dann Katzenjammer.

Volksvertreter können sie hier nicht leiden. Der Bürgermeister, Holger Hascheck von der SPD, spricht „als Privatmann“. Man dürfe die Johanngeorgenstädter nicht „in irgendeine Ecke stellen“, sagt er, ein Mann mit Schnauzer und Brille. Sie wollten Menschen in Not helfen. Dann kommt die Einschränkung: „Die Ängste der Menschen, die zu uns kommen, sind das eine. Aber auch die Ängste derer, die hier wirtschaftlich in den letzten Jahren etwas aufgebaut haben, haben wir wahrzunehmen.“ Er meint die Betreiber der Pensionen in der Nähe des geplanten Flüchtlingsheims.

Die Versammlung dauert keine halbe Stunde, sie sind ja ohnehin alle einer Meinung. Auch Elke Schleichert widerspricht nicht, die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Stadtrat. Anfangs, sagt Schleichert, 55 Jahre alt, hätten auch organisierte Rechtsextreme versucht, aufzutreten. Die Szene ist stark in der Region. „Aber inzwischen läuft es in Bahnen, die wir als Linke durchaus vertreten können“, sagt sie. Das habe sie auch ihrem Kreisvorsitzenden gesagt, als der wissen wollte, was da bei ihnen los sei, dass sie als Linke die Unterkunft ablehnten.

Im Fernsehen hat Schleichert die Bilder gesehen, wie Flüchtlinge am Bahnhof jubelnd begrüßt wurden. „Wow“, hat sie da gedacht, „und das in München“. Sie weiß, dass es bei ihnen nicht so wäre. „Selbstverständlich nehmen wir hier gerne Flüchtlinge auf“, sagt sie, „aber nur zu Bedingungen, die wir gegenüber unseren Bürgern vertreten können.“ Das berüchtigte „Aber“ kommt hier auch von links.

45 Prozent der Ostdeutschen sagen laut infratest dimap, Deutschland solle weniger Flüchtlinge aufnehmen, in Westdeutschland sind nur 30 Prozent dieser Meinung. Die Johanngeorgenstädter fühlen sich seit Jahrzehnten benachteiligt, abgehängt schon vor der Wende und erst recht danach. Keine Stadt in Sachsen hat so viele Einwohner verloren. Heute leben hier noch 4.206 Menschen, 1989 waren es noch mehr als 9.000. Aber für ein Asylheim sollen sie hier jetzt gut genug sein, oder wie? „Die Leute empfinden das als Arschtritt“, sagt Elke Schleichert.

Man reagiert im verlassenen Osten ganz anders als im wohlhabenden Südwesten, wo die Integrationsministerin von Baden-Württemberg am selben Abend für Anerkennung werben wird.

Das ehemalige DDR-Ferienheim in Johanngeorgenstadt, in dem in Kürze 150 Asylsuchende einziehen könnten, liegt ein Stück außerhalb, mit Blick auf bewaldete Berge. Man habe ja nichts gegen die, aber vielleicht nicht unbedingt in einer Massenunterkunft, sagen die Leute. Sie reden von der Angst davor, dass die Gäste wegbleiben, die es hierher zieht wegen der Ruhe und der frischen Luft. Von der Angst, dass die Flüchtlinge herumlungern und Frauen belästigen, man höre ja so einiges. Manche befürchten Tumulte oder gar einen Anschlag.

Das Ferienheim sei auch nur für 55 Gäste ausgelegt und da wollen sie 150 Flüchtlinge unterbringen? Das ist doch wie im Knast! Und dann bereichere sich nur ein Investor. Dem Landrat des Erzgebirgskreises fehlen bis Jahresende wohl 2.200 Unterbringungsplätze.

Die Linken-Stadträtin Elke Schleichert wohnt gleich um die Ecke des Ferienheims. Sie sagt, sie stimme solchen Aussagen nicht vollständig zu. Dann wieder, ein „Aber“: Man müsse die Ängste ernst nehmen. Gegen die geplante Unterkunft sei sie „im Interesse der Flüchtlinge“. Zu eng, zu abgelegen. Und das sei ja durchaus Linie ihrer Partei.

Bei der vergangenen Stadtratswahl hat niemand so viele Stimmen bekommen wie Elke Schleichert. Eine Massenunterkunft will sie ihren Wählern nicht zumuten.

Schleichert versucht ja ihr Bestes. Sie erinnert immer wieder daran, dass Johanngeorgenstadt selbst von Flüchtlingen gegründet wurde, damals Mitte des 17. Jahrhunderts. Sie sagt, dass man seinen Beitrag leisten müsse, schließlich könne man keine Mauer ums Erzgebirge bauen. Sie kämpft gegen „Berührungsängste, die keine Grundlage haben“. Waisenkinder, so sagen die Leute, die würden sie ja gern aufnehmen. Guter Flüchtling, schlechter Flüchtling, von dieser Unterscheidung hält Schleichert nichts. Aber ihre Mitbürger sind misstrauisch. Wenn sie zu erklären versucht, dass junge männliche Flüchtlinge nicht zwangsläufig kriminell sind, glauben manche, morgen kämen sie schon an. Riesenaufregung vergangene Woche: Sie sind da! Dann Entwarnung: Es waren nur Mitarbeiter des Wachschutzes. Inzwischen hat die Stadt dem Landkreis Wohnungen für 75 Flüchtlinge angeboten.

Seit einem halben Jahr leben auch schon Asylbewerber in Johanngeorgenstadt: Sieben Erwachsene und sieben Kinder, dazu eine Familie aus Syrien, die inzwischen ein Bleiberecht hat. Es klappe alles ziemlich gut, heißt es in der Stadt. Die Hilfsbereitschaft sei groß.

Das Gehirn teilt in Gruppen – nach Nähe

Der Forscher Emile Bruneau hat Menschen im Labor in Gruppen eingeteilt: Wer hat generell ein hohes empathisches Empfinden, wer ein niedriges? Wer hilft einem anderen Menschen – auch wenn der nicht zur eigenen Gruppe zählt? „Es sieht so aus, als ob es nicht darauf ankommt, wie empathisch jemand grundsätzlich ist“, sagt Bruneau. „Sondern wie viel Unterschied er sieht, zwischen seiner eigenen Gruppe und der anderen.“ Mit Unterschied meint Bruneau: wie viel Menschsein man den anderen zugesteht.

Dehumanisierung ist der Fachbegriff für dieses Verhalten. Entmenschlichung. Wenn Mitglieder einer Gruppe glauben, sie seien zivilisierter, fortgeschrittener als die einer anderen. Das, was Hitler mit seiner Herrenrasse auf die Spitze trieb.

Das menschliche Gehirn mit seinen Voreinstellungen, glaubt Bruneau, ist das eigentliche Problem. Die Tatsache, dass es automatisch in In-Group und Out-Group einteilt, kalkuliert, wie weit entfernt es sich von der anderen Gruppe sieht. Das gelte es zu überwinden.

Ob das tatsächlich klappen kann? „Ich bin da zwiegespalten“, sagt Emile Bruneau. „Manchmal habe ich große Hoffnung. Manchmal aber bin ich zutiefst entmutigt.“ Dann, wenn er über die Konflikte der Welt liest. Wenn er merkt, dass dieselben Dinge wieder und wieder passieren. Dann empfindet er es als deprimierend, wie vorhersagbar das Gehirn sich doch wieder einmal verhält.

Die Bilder aus München hat er auf Facebook gesehen. „Das ist wieder so ein Beispiel dafür, dass sich eine Gesellschaft über Nacht wandeln kann.“ Ein Beispiel, dass es klappt, die Gesellschaft zu einer besseren zu machen, wenn man nur mehr über eben jene Empathie wisse, und all das vertrackte Denken, das zu ihr gehört. Damit könnte man endlich unsere Gehirne vernünftig trainieren. Und dann, irgendwann, würde für uns München keine Besonderheit mehr sein, sondern der Normalfall.

„Des geht ned guad“, sagt die Oktoberfest-Verkäuferin

Es gibt dieser Tage das helle, strahlende München voller Hilfsbereitschaft – und es gibt die restlichen 90 Prozent. So schätzt es zumindest eine Frau ein, 61 Jahre alt, die einen Feinkoststand am Eingang des Oktoberfests betreibt. „Das mit den Asylanten und der Wiesn – des geht ned guad!“, sagt sie. Die Frau deutet über die Straße: Da haben sie die Jahre über immer gestanden. Sie meint die Pantomimen, die während der zwei Wochen als Statuen verkleidet die Blicke der Oktoberfestbesucher auf sich ziehen. Die seien „aus der Tschechei und Polen“. Und wenn jetzt die Geflüchteten auch noch auf den Trichter kommen? – „bled san’s ja ned.“ Man kann sich die Schreckensvision dieser Frau als eine ganze Armee aus Geflüchteten vorstellen, die in goldener, silberner und bronzener Verkleidung Bierzelte und Achterbahnen umstellt. Regungslos, unheimlich.

Da ist sie wieder, die Angst, die die Empathie verdrängt. Dort, wo das bierdunstige, bonbonduftende München mit den Gästen aus aller Welt ein Milliardengeschäft machen wird, betrachtet man das Leid als potenziell bilanzschädigend.

Der Münchner Bürgermeister Dieter Reiter dagegen hat inzwischen seine Wut auf die anderen Bundesländer kaum noch unter Kontrolle. Ihre Hilfe sei lächerlich, ihr Zögern dreist. Er fühlt sich im Stich gelassen. Die Stadtbeamten sind überfordert. Es dürfte sich auch in solchen Verwaltungen entscheiden, wie lange das Mitgefühl anhält, wie schnell das Septembermärchen zum Oktoberalbtraum umgedeutet wird. Vieles hängt an konkreten politischen Beschlüssen in Orten wie Johanngeorgenstadt. Oder Böblingen.

Am Tag, nachdem die Regierung wieder Grenzkontrollen eingeführt hat, ist Bilkay Öney von der SPD dorthin gefahren. Öney ist Ministerin im Kabinett Kretschmann, zuständig für Integration. Sie hatte das mit den Grenzen schon im vergangenen Jahr gefordert. Jetzt wird sie wohl bald zentrale Erstaufnahmelager für 5.000 Flüchtlinge und mehr in ehemaligen Kasernen einrichten müssen. Solche riesigen Lager waren bisher im Südwesten tabu, keine Gemeinde will sie. Aber die Zahl der Flüchtenden wird sich vorerst nicht verringern. An den Fluchtursachen könne auch sie als „kleine Integrationsministerin“ nichts ändern, sagt Bilkay Öney.

Dass jetzt alle bis zur Kanzlerin „Refugees Welcome“ rufen, sei ja schön, sagt sie, aber sie misstraut der Empathie. Der Bund habe keine Ahnung von der Belastung der Kommunen. Dort sei die Stimmung klar: Flüchtlinge gerne, aber bitte in der Nachbargemeinde. Öney kennt die Lage vor Ort, sie ist oft die Überbringerin der schlechten Nachrichten. Auf Bürgerversammlungen wird sie dafür gern mal ausgebuht.

Bilkay Öney muss sich gerade fühlen, als solle sie in Sandalen die Eiger-Nordwand besteigen. Die grün-rote Regierung Kretschmanns hat das neue Ministerium vor vier Jahren vor allem als Symbol der Willkommenskultur gegründet und Öney dafür von Berlin nach Stuttgart geholt, aber mit wenig Kompetenzen ausgestattet. Gerade mal 59 Mitarbeiter hat das Haus, die Zuständigkeiten für Ausländer- und Integrationspolitik liegen verteilt zwischen fünf Ministerien, der Haushalt ist mit Abstand der kleinste. Der Landesrechnungshof wollte das Integrationsministerium zwischenzeitlich schon mal auflösen. Jetzt steht die Ministerin plötzlich im Mittelpunkt, muss die Maßnahmen für Flüchtlinge zwischen den Ministerien, den karitativen Verbänden und den Gemeinden koordinieren.

Eins habe sie sich vorgenommen, sagt Öney: Sie wolle die Bürger nicht hinters Licht führen. Die Ministerin hatte dafür einen Kraftausdruck verwendet, den die Pressestelle ihr später verbot.

In der Berufsschule Böblingen trifft Öney am Abend auf jede Menge Verständnis – für Flüchtlinge und für ihre Politik. An die 300 Bürger haben sich in der Aula versammelt und lauschen zweieinhalb Stunden der Podiumsdiskussion. Vor der Tür parken Daimler und Porsche. Sekt, Wein und Lachshäppchen gibt es heute umsonst. Der Landkreis hat im laufenden Jahr 1.000 Flüchtlinge aufgenommen, 4.000 könnten es bis zum Jahresende werden – oder mehr. Man werde das schon hinkriegen, sagt der Landrat und zitiert den Wahlspruch der Region: „Die Vielfalt macht’s.“

Bilkay Öney verteidigt die Grenzkontrollen. Sie macht klar, dass man in den Städten mehr Wohnungen für Flüchtlinge brauche, auch in bürgerlichen Wohngebieten. Keiner wisse, wie viele Menschen noch kommen.

Nichts davon regt die Leute auf. Keine Buhrufe, keine Pfiffe. Der Landkreis betreut die Flüchtlinge hier selbst, arbeitet nicht mit Fremdfirmen. Ein Beauftragter für Integration soll danach Wohnungen besorgen und den Weg in den Arbeitsmarkt ebnen. Das lässt man sich einiges kosten. Aber wird das angesichts der täglich steigenden Zahlen reichen? Und ist es fair, das Gleiche von Johanngeorgenstadt zu erwarten?

Gutes Deutsch,Uni-Abschluss: kein Job

Das Publikum lernt an diesem Abend in Böblingen schließlich auch die Geschichte von Jean-Marie Mboka Vonga und Salman Saeed kennen. Aus dem Kongo geflohen der eine, aus dem Irak der andere. Mboka Vonga ist Diplomchemiker, arbeitet aber als Paketzusteller. Saeed ist Ingenieur mit einem deutschen Diplom der Universität Ilmenau. Er habe sich bei Daimler, Bosch und vielen anderen beworben. Nur Absagen, erzählt Saeed in gutem Deutsch. Jetzt leitet er im Landkreis eine Flüchtlingsunterkunft. Da ist sie wieder, die Kluft zwischen Optimismus und der Realität.

Es werde noch viele Zumutungen bei der Integration all dieser Menschen geben, hat die Ministerin vor ihrem Auftritt gesagt. Zumutungen für die Bürger und auch für die Flüchtlinge: „Flüchtlingspolitik ist halt kein Schönheitswettbewerb.“

In München auf der Wiesn hat ein Verkäufer für Lebkuchenherzen angekündigt, Benefizherzen zu verkaufen: „Toleranz“ steht in Zuckerguss darauf. Der Erlös soll an die Caritas gehen. Dass bloß keiner denkt, Empathie werde zum Geschäft.

Sebastian Erb, 31, ist Redakteur der taz. am wochenende

Tobias Krone, 30, ist freier Autor in München

Quentin Lichtblau, 27, ist freier Autor in München

Viktoria Morasch, 27, ist Redakteurin der taz.am wochenende

Maria Rossbauer, 34, ist Autorin der taz.am wochenende

Benno Stieber, 43, ist Korrespondent der taz in Baden-Württemberg

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