Geflüchteter über Warten und die Justiz: „Die Narben begleiten mich ständig“
Salah Soliman wollte einen Streit schlichten und wurde dabei schwer verletzt. Jetzt hofft er auf ein Gerichtsurteil – bisher aber vergebens.
taz am wochenende: Herr Soliman, Sie sind enttäuscht von der deutschen Justiz. Um zu verstehen, warum, müssen wir ein paar Jahre zurück schauen. Die Geschichte begann vor fünf Jahren in einem Einkaufszentrum in Flensburg. Was passierte damals?
Salah Soliman: Es war Black Friday im Jahr 2018, und mein Bruder und ich waren in der Galerie, das ist ein großes Einkaufszentrum in der Flensburger Innenstadt, mit Freunden unterwegs. Na ja, wir haben Bekannte gesehen und uns begrüßt. Und dann gab’s Streit …
Wie waren Sie daran beteiligt?
Mein Bruder und ich waren da gar nicht eingeplant. Offenbar hatte das Ganze eine Vorgeschichte, es hatte schon vorher einen Streit gegeben und auch einen Whatsapp-Chat. Die Beteiligten und einige ihrer Freunde haben sich dann in der Galerie getroffen. Wir waren in der Nähe und haben beobachtet, wie mehrere Leute aufeinander losgegangen sind. Wir sind dann dazwischen gegangen, um da zu helfen. Also, als Erster ging Abdul hin, mein Bruder, weil er einige von denen kannte, die da beteiligt waren. Er wollte schlichten, er ist so einer, der immer helfen will. Na, und ich bin dann hinterher, um ihn nicht alleinzulassen.
Es war ja ein Messer im Spiel – hatten Sie keine Angst, in so eine Situation reinzugehen?
Das Messer hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht bemerkt. Ich bin meinem Bruder nach, weil ich gesehen habe, dass er geblutet hat. Ich wollte die anderen von ihm wegkriegen, ich musste ja etwas machen. Und es ging alles wahnsinnig schnell.
Sie sind also zwischen die anderen gegangen, dabei wurden Sie verletzt, mit dem erwähnten Messer. Hatten Sie nicht wahnsinnige Schmerzen?
Der Mensch
Salah Soliman stammt aus Asch-Scharqiyya (Scharkia) im östlichen Nil-Delta in Ägypten. Der heute 24-Jährige kam 2016 mit seinem jüngeren Bruder als unbegleiteter Flüchtling nach Deutschland, lebte im Kirchenasyl und in einer Jugendeinrichtung, bevor er eine Ausbildung zum Hotelfachmann begann. Heute wohnt er in Harrislee bei Flensburg.
Der Konflikt
Im Einkaufszentrum Galerie in Flensburg kam es im 2018 zu einem Streit mit zahlreichen Beteiligten. Laut der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft hatten zwei Männer, gegen die inzwischen Anklage erhoben wurde, das Treffen geplant. Es kam zu einer Schlägerei, bei der offenbar auch ein Messer und ein Schlagring eingesetzt wurden. Anklage wurde im April 2019 erhoben, es geht um versuchten Totschlag. Wann der Prozess eröffnet wird, ist offen: Das Gericht zieht aufgrund von Arbeitsüberlastung Fälle vor, in denen Fristen laufen, Personen in U-Haft sitzen oder Fluchtgefahr besteht.
Ich hatte anfangs keine Schmerzen. Erst war ich eigentlich noch ganz normal drauf, habe nichts gespürt. Das ist diese Adrenalinsache, der Körper schützt sich selbst. Dann habe ich gemerkt, wie Blut auf den Boden läuft, und im nächsten Moment lag ich da. Zum Glück war zufällig ein Arzt in der Nähe, der in der Galerie eingekauft hatte. Der hat mir gesagt, wie ich liegen soll, und ist bei mir geblieben, bis die Rettung kam. Die haben mich dann ins Franziskus-Krankenhaus gefahren.
War Ihnen da bereits klar, wie schwer Sie verletzt waren?
Ja, doch. Das war mir dann schon klar.
Was hätte passieren können, wenn Sie nicht eingegriffen hätten? Wollte der Mann mit dem Messer auf jemanden einstechen?
Was genau er wollte, kann ich nicht sagen, aber die Szene war schon dramatisch. Es fielen Schläge von überallher, der Onkel des Angreifers prügelte mit einem Schlagring auf einen kleineren Jungen ein, und mein Bruder wurde verletzt. Ich musste was tun. Ist es nicht Pflicht in Deutschland, dazwischenzugehen, wenn so was passiert?
Na ja, Sie hätten auch zum Beispiel Hilfe rufen können … Nach dem Vorfall tat sich die Polizei offenbar schwer festzustellen, wer wie an der Tat beteiligt war. Zumindest klingt es im Bericht in der Lokalzeitung so. Dort ist von „einem Streit zwischen mehreren Personen“ die Rede, der sich „zu einer handfesten Auseinandersetzung mit Pfefferspray und mindestens einem Messer“ entwickelte. Wurden Sie anfangs als Verdächtiger behandelt? Was hat die Polizei gedacht?
Ich weiß nicht, was die Polizei gedacht hat. Kann sein, dass es für die anfangs so aussah, als seien alle schuldig. Es waren ja wirklich eine ganze Menge Leute da.
Stimmt, in der Anklageschrift werden 20 Zeug*innen aufgezählt, plus die Polizei, die mit mehreren Personen anrückte. Wie haben Sie die Beamten erlebt?
In der Lage selbst herrschte erst mal Chaos. Die haben mit meinem Bruder gesprochen, aber es vermieden, mit mir zu reden, ich lag ja auf dem Boden. Dann kam ich ins Krankenhaus, zu einer Notoperation. Irgendwann habe ich noch halb in Narkose eine Aussage gemacht. Später kam noch jemand von der Kripo, das war dann alles fair und okay.
Sie und Ihr Bruder wurden beide verletzt, Sie noch schwerer als er. Was ist passiert, und wie geht’s Ihnen heute damit?
Ich habe einen Stich in die Seite bekommen, bei der Operation habe ich eine Niere verloren. Früher war ich fit und sportlich, das bin ich heute nicht mehr so richtig.
Wie heißt das, können Sie noch Sport machen?
Ach, das ist ein richtig großes Thema für mich. Früher bin ich an einem langweiligen Tag immer ins Schwimmbad gegangen, auch im Urlaub war ich immer schwimmen – das mache ich nicht mehr. Die Motivation ist weg, auch wegen der Narben, die mich im Alltag einschränken. Ich habe immer noch Schmerzen, ich fühle mich nicht mehr so wohl in meinem Körper. Das Selbstbewusste, das ich hatte, das ist nicht mehr da. Früher hatte ich kein Problem damit, mit nacktem Oberkörper rumzulaufen, das mache ich heute nicht mehr. Diese Narben sind mitten im Bauch, unter der Brust, da werden die Augen automatisch drauf gelenkt. Ich war fünf Jahre in einer Beziehung, und ich glaube, die Folgen dieses Vorfalls und die Narben, die mich ständig begleiten, haben auch die Beziehung kaputt gemacht.
Lässt sich nicht zumindest gegen die Narben etwas machen?
Ich war deswegen in Hamburg in einer Beratung. Da kann man schon etwas machen, aber es kostet 2.000 Euro, die müsste ich vermutlich selbst zahlen, weil es als Schönheits-OP gilt. Dabei ist es nicht nur das Aussehen, sondern es schmerzt ja auch. Aber ich weiß nicht, ob die Krankenkasse das versteht. Na ja, und auch darüber hinaus muss ich jetzt auf vieles achten und meine Gesundheit im Blick behalten, denn die verbliebene Niere wird im Lauf der Zeit schlechter. Aktuell empfehlen die Ärzte, dass ich in eine Klinik gehe und alles gründlich untersuchen lasse, das würde ich auch gern tun. Hinzu kommt, dass ich psychisch belastet bin.
Wie wirkt sich das aus?
Ich möchte arbeiten, ich will Karriere machen. Aber solange diese Geschichte juristisch nicht beendet ist, ist mein Kopf nicht frei. Vieles beschäftigt und belastet mich. Eigentlich würde ich gern studieren, aber im Moment schaffe ich das nicht. Zurzeit arbeite ich auch nicht. Ein Mitarbeiter mit so einer Geschichte ist nicht leicht für einen Betrieb. Manchmal bin ich gereizt oder nicht konzentriert, ich fürchte, dass ich nicht gut in das Arbeitsklima einsteigen kann. Und wenn das nicht möglich ist, belaste ich die Stimmung, und das braucht keiner bei der Arbeit. Ich möchte meine Chance ergreifen, aber im Moment geht es nicht.
Was machen Sie denn beruflich?
Damals war ich noch in der Ausbildung, als Hotelfachmann in einem Hotel in Wassersleben, das ist ein Ort nahe der Flensburger Förde und an der Grenze zu Dänemark. Die lange Ausfallzeit durch Krankenhaus und Reha hat auch die Ausbildung gefährdet, ich konnte erst nach längerer Zeit nach dem Hamburger Modell wieder einsteigen. Aber meine Chefs haben das Ganze verstanden, ich konnte die Zeit nachholen und die Prüfungen später nachmachen.
Sie wohnen hier in Harrislee bei Flensburg mit Ihrem Bruder zusammen – klappt das gut, diese Männer-WG?
Das klappt gut, ja. Wir wohnen seit vier Jahren zusammen. Anfangs war alles gut, aber nach dem Vorfall in der Galerie gab es ein paar Probleme, weil ich durch die Verletzungen im Alltag beschränkt war. Wir reden aber nicht oft miteinander darüber, das würde mich noch mehr fertigmachen. Immerhin haben wir beide trotz der Sache unsere Ausbildungen beendet. Mein Bruder ist Heizungs- und Sanitärtechniker, er arbeitet in einer guten Firma. Ich arbeite nicht, wie gesagt, und das belastet mich ziemlich. Zurzeit bin ich viel zu Hause oder beim Arzt.
Sie sind als Jugendlicher als unbegleiteter Flüchtling aus Ägypten nach Deutschland gekommen. War eine Ausbildung im Hotel Ihr Traum, oder haben Sie einfach die erste beste Lehrstelle akzeptiert, weil ein Vertrag Ihnen Sicherheit vor Abschiebung garantiert?
Nein, tatsächlich habe ich mich freiwillig für das Hotelfach entschieden, weil ich sprachtalentiert bin und weil ich hoffe, dass mir diese Ausbildung für meine Karriere nutzt. Mein Ziel ist, die Welt zu sehen und ein Studium zu machen. Wenn es dazu kommt.
Stimmt, Ihr Deutsch ist wirklich sehr gut. Wie haben Sie das gelernt?
In Elmshorn habe ich für ein halbes Jahr die Europaschule besucht, dann bin ich nach Hörup umgezogen. Das Zusammensein mit den Betreuern in der Wohngruppe, die Gespräche mit den anderen Kindern haben viel gebracht, und dann hatte ich diese lange Beziehung zu einer Frau, die mich viel unterstützt hat. Und Talent kommt dazu: Vokabeln lerne ich auch, wenn ich vor dem Fernseher sitze. Aber die Schule hat mir viel beigebracht, und ich bin oft mit Deutsch sprechenden Leuten unterwegs.
Ist es schwer, Deutsche kennenzulernen, wenn man als Asylbewerber hierher kommt?
Nein, das fiel mir nicht schwer. Zurzeit habe ich eigentlich nur deutsche Freunde und einige aus EU-Staaten, zum Beispiel aus Norwegen oder Frankreich. Klar, ich kenne ein paar Ausländer, etwa die Leute aus dem Heim, in dem ich anfangs gewohnt habe, aber ich suche eher andere Kontakte. Ich denke, es bringt mir mehr, vor allem sprachlich, wenn ich mit Deutschen unterwegs bin.
Das klingt alles so ordentlich und diszipliniert, also Eigenschaften, die manche als typisch Deutsch bezeichnen. Wie deutsch fühlen Sie sich inzwischen?
Schon einigermaßen. Wobei ich nicht deutsch oder was immer sein will, sondern nur versuche, meine Meinungen zu haben und mich danach zu verhalten. Aber es stimmt, eigentlich habe ich mit meiner ägyptischen Kultur nichts mehr zu tun. Sogar zu Hause mit meinem Bruder spreche ich meistens Deutsch. Das liegt auch daran, dass er eine deutsche Freundin hat, und die soll uns ja verstehen.
Und Musik und Bücher – was mögen Sie da für Sachen, und in welchen Sprachen?
Ich höre hauptsächlich englische Lieder, was so im Radio läuft, und ich lese deutsche Bücher.
Was denn grade?
So eine Novelle, was Romantisches. Meine Ex hat mir das zur Trennung geschenkt.
Aber Kontakte zu Ihrer Familie oder auch Freunden in Ägypten haben Sie noch?
In Ägypten direkt zu niemanden. Meine Familie ist in verschiedenen Ländern verstreut, aber wir rufen uns an.
Ihr Bruder und Sie kamen als Minderjährige ohne Begleitung nach Deutschland. Wann war das, und warum sind Sie geflohen?
Ich möchte darüber gar nicht so viel erzählen, nur so viel: Für Touristen ist Ägypten ein tolles Land und auch wir hatten eigentlich ein schönes Leben, mit Haus und allem. Aber mein Vater hat sich gegen Unrecht ausgesprochen – er ist wie mein Bruder, er musste auch dazwischengehen – und dann kam die Familie unter Druck. Mein Vater hat entschieden, dass wir gehen sollen. Im April 2016 kamen wir in Deutschland an.
Ägypten gilt als sicherer Herkunftsstaat. War es schwer, hier einen Aufenthaltsstatus zu bekommen?
Wir mussten anfangs um unseren Status kämpfen, ich lebte eine Weile im Kirchenasyl in Schnarup-Thumby, das ist ein Ort hier in der Nähe. Das war eigentlich gut da, die Leute haben sich toll eingesetzt. Inzwischen habe ich einen Aufenthaltstitel. Aber der Status ist nicht dauerhaft.
Sprich, im Moment ist alles unsicher bei Ihnen. Sie hoffen nun auf den Prozess, um zumindest dieses Thema abschließen zu können?
Ja, ich hoffe, dass endlich der Prozess eröffnet wird. Ich verstehe nicht, warum das so lange dauert.
Das zuständige Gericht sieht keinen Grund, den Fall beschleunigt zu behandeln, das teilt der Präsident des Landgerichts auf Anfrage mit. Weil niemand in Haft sitzt, keine Fluchtgefahr besteht und es nach bisherigen Erkenntnissen keine Tötungsabsicht gab seien andere Fälle vorrangig. Das heißt, es wird wohl noch dauern. Sie haben inzwischen einen Anwalt, richtig?
Ja. Von den anderen Beteiligten hatte der eine oder andere keinen Bock mehr, einige haben es unter sich geklärt. Ich will es offen und vor Gericht. Neulich kam immerhin die Einladung zu einem Gütetermin, da geht’s um Schmerzensgeld. Da gehe ich natürlich hin, aber das Geld ist mir egal, das gibt man eh irgendwann aus. Einigen will ich mich nicht mit dem, der mich verletzt hat, ich will nicht mal mit dem in einem Raum sitzen. Schlimm genug, dass er so schnell aus der U-Haft wieder rauskam damals. Anfangs habe ich Angst gehabt, ihm wieder zu begegnen.
Ist das mal passiert in den vergangenen Jahren?
Ja, einmal habe ich ihn gesehen. Da war er mit zwei anderen unterwegs, die haben ihn gleich ins Auto gezogen.
Was wünschen Sie sich, wie sollte es jetzt weitergehen?
Ich will den Prozess und dass der Typ in den Knast geht. Mir geht es um Gerechtigkeit. Wenn ein Gericht es so entscheidet, dann gibt es am Ende auch Schmerzensgeld und er muss für den Anwalt zahlen. Zurzeit müsste ich den selbst zahlen, wenn ich Geld verdienen würde. Also ist es ein Kompromiss mit mir selbst, nicht zu arbeiten, bis es geklärt ist.
Wenn die Sache hinter Ihnen liegt, was planen Sie für die Zukunft? Wieder im Hotel arbeiten, eine neue Beziehung anfangen?
Ja, erst mal möchte ich noch Erfahrungen im Job sammeln und mehr von der Welt sehen, dann würde ich gern BWL studieren. Das geht an einer privaten Fachschule, ich habe mich schon erkundigt. Mit so einer Ausbildung habe ich viele Möglichkeiten. Heiraten und Kinder bekommen würde ich gern, eine Zukunft ohne Familie kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin jetzt nicht direkt auf der Suche nach einer Frau, aber wenn es passiert, freue ich mich. Einige Leute versuchen zu heiraten, um ihren Status zu sichern, aber das ist nicht mein Plan, so was würde ich nicht machen.
Wenn Sie zurückblicken auf diesen Black Friday damals: Mit dem jetzigen Wissen um die Folgen, würden Sie wieder in so eine Szene reingehen?
Nein. Wenn da ein Messer im Spiel ist, dann nicht. Dann hätte ich lieber eine Faust abbekommen und wäre bewusstlos geworden, aber ein Messer ist schlimm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles