Gefahr für Nord- und Ostsee: Rostende Zeitbomben
Seit 1945 bedrohen 1,6 Millionen Tonnen Altmunition das Meer in Nord- und Ostsee. Jetzt startet ein Pilotprojekt zur Bergung und Entsorgung.
Leicht nervöses Gekicher in der Besucherschar an Bord des „Mehrzweckboots“. Das im Grau der Kriegsmarine gestrichene Schiff tuckert in Sichtweite der Kieler Förde auf der Ostsee. Das Wasser glänzt in der Sonne, aber die friedliche Oberfläche täuscht: Ein paar Meter unter dem Kiel verrotten in der „Kollberger Heide“, einem militärischen Sperrgebiet von einem Quadratkilometer Fläche kurz vor Kiel, alte Bomben, Waffen, Torpedos, Munition und Minen auf dem Meeresgrund.
Wie gefährlich das alte Kriegsgerät ist, das vor allem am Ende des Zweiten Weltkriegs an diesem und drei weiteren Orten in der Ostsee versenkt wurde, hat Greinert lange erforscht. Jetzt zeigt er es einer Gruppe rund um Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) mit Aufnahmen von Tauchrobotern und anhand seiner Daten. Greinert ist Professor für marine Geosysteme und Tiefsee-Beobachtung am Geomar Forschungsinstitut und sagt: „Das ist ein Hotspot und super Studienort.“
Sein Fazit: Alte Munition und Waffen (300.000 Tonnen in der Ostsee, 1,3 Millionen Tonnen in der Nordsee) sind eine rostende Zeitbombe: Nach 75 Jahren schleichen sich jetzt die krebserregenden Benzolverbindungen aus dem TNT-Sprengstoff in das Meerwasser, sie lagern sich in Muscheln und Fischen an und gelangen in die Nahrungskette. Um eine Giftkatastrophe zu verhindern, „bleiben uns noch etwa zehn Jahre“, so der Forscher.
Ab nächsten Jahr soll Entsorgung starten
Diese Frist soll nun ein Pilotprojekt aus dem Bundesumweltministerium mit Unterstützung der Länder nutzen. Nach langen Jahren, in denen versenkte Waffen nur geräumt wurden, wenn sie die Schifffahrt direkt bedrohten, sollen ab nächstem Jahr die Altlasten systematisch geortet, geborgen und vernichtet werden. Ausgeschrieben werde ein „zweistufiges Verfahren“, sagt Sebastian Unger, Meeresbeauftragter der Bundesregierung aus dem Umweltministerium: Bis nächstes Jahr soll eine schwimmende Plattform so umgebaut werden, dass sie mit der Bergung der gefährlichen Fracht beginnen kann. Bis Sommer 2025 soll ein neu gebautes Schiff oder eine Plattform im Wasser sein, die neben der Bergung auch die Sortierung und Verbrennung der Explosivstoffe garantiert.
100 Millionen Euro hat der Bund für das Projekt bereitgestellt, das im Koalitionsvertrag der Ampel verabredet wurde. Die Länder diskutieren noch darüber, wer sich mit wie viel Geld beteiligt. Denn Kampfmittelräumung ist eigentlich Sache der Länder. Die verweisen aber auf den Bund als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, aus dem die Munition stammt. Und weil alles so kompliziert und teuer ist, wurde das Thema über Jahrzehnte nicht angepackt. Jetzt drängen die Zeit und die Größe des Problems. Im Pilotprojekt sollen 750 Tonnen pro Jahr entsorgt werden. Bei 1,6 Millionen Tonnen wird das selbst bei mehreren Schiffen oder Plattformen sehr lange dauern und ein „großes Unterfangen“, so Unger. Auch die 100 Millionen Euro sind nur ein Anfang.
Geomar-Forscher Greinert plädiert außerdem dafür, die Zonen nach ihrer Räumung gleich als „Nullnutzungszonen“ für den Meeresschutz zu reservieren. Wo bisher nicht gefischt wurde, soll es auch zukünftig untersagt sein. Das könnten dann Kernzonen eines Nationalparks werden, den die Regierung in Schleswig-Holstein bis nächstes Jahr plant.
Der allerdings ist im Land umstritten: Hoteliers fürchten Einschränkungen, Fischer Regulierungen. Und manche finden, der Natur würde es mehr nützen, wenn erst mal die Überdüngung aus der Landwirtschaft beendet würde. Aber eine Räumung der Munition finden alle gut – die Nachrichten von Touristen, die am Strand Phosphor aus den Waffen finden, es für Bernstein halten und sich verletzten, trüben das Image der Urlaubsregion Ostsee.
Bergung von Munition ist großer Markt
Auch die Besuchergruppe an Bord der „Helmsand“ ist erleichtert, dass endlich mit der Räumung begonnen werden soll. Gut für den Meeresschutz. Und vielleicht auch gut für die Wirtschaft an der Küste, wenn Spezialschiffe und das Wissen um Munitionsräumung und sichere Vernichtung der Bomben am Meeresgrund gebraucht würden. Denn der Markt ist potenziell riesig, meinen die Experten: Auch vor Dänemark, Polen und anderen Ostsee-Staaten verseuchen Munitionsreste das Wasser. Kriegs-Altlasten im Meer zu versenken, haben etwa auch die USA im Pazifik praktiziert, heißt es. Und wenn der Krieg in der Ukraine einmal vorbei sein wird, werde sich diese Frage wohl auch im Schwarzen Meer stellen.
Anmerkung: In einer vorherigen Version dieses Textes wurde der Meeresschutzbeauftrage Unger mit der Forderung zitiert, die geräumten Zonen für den Meeresschutz zu reservieren. Das war ein Versehen, diese Forderung stammt von Geomar-Forscher Jens Greinert, wie es jetzt hier richtig steht. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste