Gefährlichste Revolution der 68er: Nachruf auf den Putzdienst
Die 68er sind an allem schuld - an steinewerfenden Ministern, dem Pisa-Desaster, dem Anschlag von Mölln. Ihre schlimmste Nachwirkung ist in Wahrheit diese: das Pflichtputzen für Kinderladeneltern.
Sabine reinigt gerade sehr nachhaltig das Aquarium. Sie saugt kurz an dem Schlauch, um einen Unterdruck zu erzeugen. Einen Wimpernschlag später blubbern schwarze Schlieren in den Eimer. "Ist alles organisch", wehrt sie alle Bedenken fröhlich ab. Kai wendet sich mit Annett lieber dem gewöhnlichen Staub im Toberaum zu. Da kommt Wolf reingeschneit. "Wer koordiniert die ganze Putzaktion?", will er wissen. "Gibt keinen Chef hier", brummt Kai zurück, "sind n demokratischer Schülerladen."
Großreinemachen im Berliner Kinder- und Schülerladen "Obst & Gemüse". Jedes Jahr sind zwei solcher Subbotniks für die Eltern vertragliche Pflicht. Vor 40 Jahren entstanden die Kinderläden - eines der tragenden Elemente der 68er-Bewegung. Was wissen Eltern heute noch von der Erziehung der 68er?
"Wie hieß der Begriff noch, den die geprägt haben?", fahndet Annett in ihrem Gedächtnis. "Ach ja, antiautoritär!" Das war freilich nicht der Grund, warum sie ihre beiden Kinder bei Obst & Gemüse angemeldet hat. "Weil ich den Schulhort gegenüber einfach schrecklich finde", nennt Anne das Motiv, das hier allen als Erstes einfällt. Und was war nun das Erziehungskonzept der 68er? Rätselraten, Grübeln, fragende Gesichter - wen man auch fragt im Kinder- und Schülerladen Obst & Gemüse.
1968, das ist "so weit weg wie die Antike". Die Formel stammt von Michael Ruetz. Das scheint auch für Kinderläden und Erziehung zu gelten.
Meike Sophia Baader ist darüber erstaunt und erschreckt gleichermaßen. "Aus bildungspolitischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive verwundert", schreibt die Hildesheimer Erziehungswissenschaftlerin, "dass in all den mehr oder weniger einschlägigen Büchern über 1968 aus den letzten zehn Jahren die pädagogische Dimension so gut wie nicht vorkommt." Für die Pädagogik-Professorin ist es deswegen so verwunderlich, weil Scherbengerichte über die 68er im Fünfjahrestakt veranstaltet werden. Joschka Fischers Steinwürfe führten zu peinlichen Befragungen im Bundestag, das Pisa-Desaster wird regelmäßig den 68ern angelastet. Gerade im Jubiläumsjahr wurden diverse Heldenepen auf die Revolution verfasst.
Allerdings: Die 68er-Literatur, so Baader, "ist stark dominiert von den immer gleichen männlichen Heroen, von Dutschke, Langhans, Kunzelmann, Krahl und Teufel, dem Personal der Kommunen I und II". Frauen sind "an dem Streit um die Deutungsmacht und um die Selbstdeutungen von 1968 kaum beteiligt". Und sie kämen eben auch nicht vor - außer "als Trägerinnen des Minirocks, im Zusammenhang mit der sexuellen Revolution oder in der Person des Models Uschi Obermaier".
Ähnlich ist es mit dem Thema "Wie 1968 die Pädagogik bewegte". Das ist nun wirklich seltsam. Man mag die Wirkungen der 68er in der Politik und in den Institutionen, durch die sie marschiert sind, generell infrage stellen. Aber wenn es irgendwo tiefgreifende Folgen der 68er gab, dann an Unis, Schulen und Kinderläden, in der Erziehung allgemein. Die 68er waren es, die nicht nur unter den Talaren der Professoren, sondern auch in der Lebenswelt der Menschen den "Muff von 1.000 Jahren" weggefeudelt haben - und zwar so gründlich, wie die Putzkolonne den Toberaum ihrer Kleinen durchpustet. Meike Baader hat dazu eine erste Studie herausgegeben (siehe unten).
Der Mann redet sich in Rage. "Die allgemeine Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen", sagt er im Düsseldorfer Landtag, "hat zum nicht geringen Teil ihre Ursachen, ihre Wurzeln im Gedankengut vieler Vertreter der sogenannten 68er Generation." Die Stenografen notieren Empörung vor allem bei den Grünen. Aber jetzt, da CDU-Fraktionschef Helmut Linssen die Bande am Wickel zu haben glaubt, haut er weiter feste drauf. "Diese Vertreter propagierten damals die Selbstverwirklichung des Einzelnen als Lebenszweck und versuchten, sämtliche Werte und konservativen Tugenden des Bürgertums über Bord zu werfen. Diese 68er", fährt er fort, "nehmen heute unter anderem in den Schulen unseres Landes teilweise Schlüsselfunktionen ein und sind daher mit ursächlich für erzieherische Fehlleitungen vieler Kinder und Jugendlicher."
Das war 1993. Aber es ging dem heutigen nordrhein-westfälischen Finanzminister Linssen nicht etwa um rockende, kiffende oder vögelnde Jugendliche, es ging um Mord. Ende 1992 gab es die verheerenden Brandanschläge von Mölln mit drei Toten, davon zwei Kinder. Junge Neonazis verübten die Anschläge - Linssen nutzte die Chance, auch das den 68ern in die Schuhe zu schieben.
Selbst eine grüne Abgeordnete beteiligte sich an der Abrechnung mit den 68ern. "Es war unsere Revolte, die viele Wertesysteme hat zusammenbrechen lassen", schrieb Beate Scheffler über die Folgen für die Kinder. "Wir ließen sie diskutieren, bestimmen und entscheiden. Wir setzten möglichst wenige Grenzen, sprachen ungern Verbote aus, mit denen sich die Kinder hätten auseinandersetzen müssen." Die Grüne Scheffler hielt zwar die emanzipatorische Erziehung nach wie vor für richtig, folgerte aber: "Wir haben unsere Erziehungsziele nicht erreicht. Statt der mündigen … politisch hochmotivierten Jugend hat unsere Erziehung eine Spezies hervorgebracht, die … im schlimmsten Falle sogar gewalttätig und fremdenfeindlich ist."
Bei Obst & Gemüse mag man im Jahr 2009 gar nicht glauben, wie 1993 über die 68er Erziehung diskutiert wurde. "Völliger Quatsch", sagen sie, "Nonsens, dass die 68er schuld an den Neonazis sein sollen." Annett, die aus dem Osten kommt, kichert: "Ich dachte, wir seien schuld an den Neonazis - weil man uns in der Krippe immer alle auf einmal aufs Töpfchen gesetzt hat." Heute, wahrscheinlich schon damals wusste die Sozialforschung, dass selbstverständlich nicht die Post-68er-Erziehungskultur schuld an den Neonazis ist - sondern eher ein Zuwenig an offener Erziehung.
Interessant ist: Das, was man den 68ern als Erziehungsattribute zuschreibt, also antiautoritär oder laissez faire, goutiert bei Obst & Gemüse kaum einer. Die Frage wird empört zurückgewiesen. Aber was ist dann euer Erziehungsstil eigentlich? Margrit, sie ist Lehrerin, kann es genau sagen: "Mit Liebe, das ist klar. Und durch das Beispiel. Ich kann von Kindern nicht etwas erwarten, was ich ihnen nicht vorlebe. Und: Kinder brauchen Grenzen und verlässliche Regeln."
Johanna Haarer empfiehlt der Mutter, keine Schwäche zu zeigen. Wenn das Kind schreit, dann solle frau sich nicht kümmern - und schon gar keinen Schnuller holen. "Nur ja keine Schwäche, kein langes Zögern! Kinder merken dies mit tausend feinen Sinnen - und dann bist du verloren, liebe Mutter!", schreibt Haarer. "Werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen." "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" war Johanna Haarers erstes Buch, geschrieben 1934. Ganze Passagen hatte sie aus Hitlers "Mein Kampf" abgepinselt. "Auf uns Frauen wartet als unaufschiebbar dringlichste Aufgabe die eine uralte und ewig neue Pflicht: der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken." Es war das Erziehungsbuch der Nazizeit.
Was hat das mit den 68ern zu tun? Es war auch ihr Erziehungsbuch. Denn die Haarer war nach 1945 ja immer noch da. "Die deutsche Mutter" wurde im Nationalsozialismus 690.000-Mal gedruckt - und erschien, nach kurzer Schamfrist, 1951 wieder - allerdings hieß es jetzt: "Die Mutter und ihre erstes Kind". Weitere Auflagen folgten in den 60er-Jahren, Haarer publizierte ihre von "Mein Kampf" mitinspirierten Erziehungsratgeber bis 1987. Die Autorin bereinigte sie um einige Hitler-Passagen - aber verkaufte munter ihr Erziehungskonzept weiter. Sigrid Chamberlain, die über Haarer geschrieben hat, fasst das Konzept so zusammen: "Das Kind als Feind".
Das war es, womit die 68er unter anderem aufräumen mussten. Und so fremd und abstrus sich Haarers Zuchtbefehle heute anhören, so wenig wundert es einen, dass man dagegen eine anti-autoritäre Erziehung propagierte - zunächst. Meike Sophia Baader freilich zeigt in ihrem Buch, dass schon im Beginn der 68er die reine Anti-Position relativiert wurde. Die 1967 in Stuttgart gegründeten Kinderläden sprachen schon von zwangsfreier und nicht von "antiautoritärer Erziehung".
Zwar lasen Hunderttausende in diesen Jahren Alexander S. Neills "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung". Aber schnell wurde klar, dass Kinderläden nicht stets so anarchisch waren, wie das legendäre Bild nahelegte, auf dem halbnackte Kleinkinder in einem Laden auf der bildungsbürgerlichen Ikone schlechthin herumturnten - dem Klavier. Der Idee nach ging es um Selbstregulierung. Das Kind solle seine Bedürfnisse frei äußern können, ohne Schuldgefühle aufwachsen. Das Lernen solle von den Fragen des Kindes ausgehen. Das bedeutete im Alltag, dass man zum Beispiel die Räume und das Spiel in den Kinderläden anders organisierte und die Erzieher eine weniger dominante Rolle einnehmen sollten.
Die Brüche, die wegen der pädagogischen Revolution innerhalb der 68er-Bewegung entstanden, sind nicht klein. Die Kinderläden wurden nicht - wie teilweise behauptet - von der Kommune I gegründet, sondern von den Frauen im SDS, die einen "Aktionsrat zur Befreiung der Frauen" bildeten. Die Frauen liberalisierten die Erziehung gründlich, sie holten sich selbst "aus der Isolation in der Familie" - und sie wiesen den politischen Anspruch der kommunistischen Fraktion im SDS explizit zurück. Dafür wurden sie erst mit Tomaten beworfen - anschließend entriss man ihnen die Hoheit über die Läden. Es gehe nicht um eine Revolution der Erziehung, sondern um eine Erziehung zu Revolution. Das Kommando übernahm ein Zentralrat der Kinderläden. SDS putscht gegen Kinderläden - keine schlechte Pointe der 68er Bewegung.
Nach einigen Stunden fröhlicher Putzerei, Disputierens ("Sollen wir einen neuen Staubsauger kaufen?") über diverse Neuanschaffungen setzt sich auch die verbliebene Drei-Frauen-zwei-Mann-Putztruppe in Obst & Gemüse zu einem spontanen Plenum zusammen. Nein, es wird für keine Erziehungsrevolution agitiert und auch kein Sit-In geplant. Man beschließt, jetzt nach Hause zu gehen.
Denn das Gefährlichste und Schlimmste, was die 68er hinterlassen haben, da sind sich alle einig, sind eindeutig die Putzwochenenden in selbst verwalteten Kinderläden.
Meike Sophia Baader (Hrsg.) »Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!« - Wie 1968 die Pädagogik bewegte. Beltz 2008. 279 S. EUR 18,90
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen