Geert Mak über John Steinbecks US-Trip: „Das Ideal der Amerikaner ist weg“
Geert Mak reiste auf den Spuren John Steinbecks durch die USA. Der habe sich damals viel aus den Fingern gesogen. Und heute ist Amerika tief gespalten, so Mak.
Für seine Reisereportage „Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ist der niederländische Publizist Geert Mak 2010 auf den Spuren John Steinbecks durch die USA gereist. Steinbeck war 1960 während des Präsidentschaftswahlkampfs Nixon/Kennedy mit Pick-up (Rosinante) und Pudel (Charley) aufgebrochen, um Land und Leuten nachzuspüren.
Die „Travels with Charley“ wurden in den USA zum Bestseller und zur Schullektüre. Maks Nachreise ergab nun jedoch, dass es der Romancier Steinbeck mit dem journalistischen Realismus offenbar nicht so genau genommen hat. Ein Gespräch über Fakten und Fiktionen in der Reise mit Charley, Steinbeck on Speed und Mythen, die das Land blockieren.
taz: Herr Mak, Sie sind nicht als Erster auf John Steinbecks Spuren durch Amerika gereist. Aber mit Ausnahme des Journalisten Bill Steigerwald, der dieselbe Idee einer 50-jährigen Jubiläumstour hatte, ist niemandem aufgefallen, dass vieles in seinen „Travels“ fragwürdig ist?
Geert Mak: Nein, merkwürdigerweise haben das auch die Steinbeck-Forscher nie genauer untersucht. Eine erste Ahnung bekam ich, als ich die Biografie seines Sohns John jr. las. Seiner Ansicht nach hat sich Steinbeck die Begegnungen in den „Travels“ aus den Fingern gesogen. Als ich dann unterwegs war, merkte ich auch bald, das kann unmöglich hinkommen. Am Morgen ist er da, am Abend dort, das sind 450 Meilen, und zwischendurch hat er von mittags bis abends geangelt und geplaudert. Wie soll das gehen mit diesem alten Lastwagen?
Und dabei liest es sich zunächst so toll, wie er da seine Reisevorbereitungen trifft, seinen Truck mit Alkoholika vollstopft, weil er mit den Menschen ins Gespräch kommen will. Am Ende gerät das Ganze dann aber doch recht flüchtig.
Zuerst funktioniert das noch ganz gut. Dann kommt er nach Chicago, und alles ändert sich. Er trifft seine Frau Elaine und wird danach mehr und mehr von der Sehnsucht nach seiner Frau getrieben.
Geert Mak ist Schriftsteller und Essayist. Er wurde 1946 in Vlaardingen (Niederlande) geboren. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen "Amsterdam" (1997) und "In Europa" (2005). 2008 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Und reist dann durch den Mittleren Westen bis nach Seattle.
Dort trifft er seine Frau erneut, und die einsame Expedition mutiert zur Urlaubsreise durch Kalifornien. Und Charley sitzt heulend hinten im Wagen. Das steht aber nur im Manuskript des Buchs. Und diese Passagen hat Steinbeck alle wieder rausgestrichen. Aus den „we“ wird „I“ – ich, ich, ich. Und der Hund landet wieder auf dem Beifahrersitz. Das Ganze hat auch einen hohen Machogehalt. Steinbeck war krank und wollte mit seiner Tour zeigen, dass er noch ein echter Mann war. Eine stark konstruierte Reise also.
Gab es noch andere Merkwürdigkeiten?
Zum Ende seiner Reise gibt es eine Dialogszene, da nimmt er nacheinander drei Tramper mit. Einen gemäßigten Schwarzen, einen weißen Rassisten und einen jungen, radikalen Schwarzen. Allein diese Konstellation ist so konstruiert …
Geradezu idealtypisch präsentiert uns Steinbeck das komplette Spektrum der Haltungen zum Thema Rassismus.
Als Journalist spürt man, das ist fabuliert, das kann nicht richtig sein. Dann fand ich den Brief eines Freunds von Steinbeck. Der war zwei Tage mit ihm mitgereist, hat das dann aber abgebrochen. Er sagte, man hätte kein Wort wechseln können, da war ein Höllenlärm in der Fahrerkabine. Diese Dialoge können also niemals so stattgefunden haben. Nicht in diesem Auto.
Die New York Times tadelte angesichts dieser Entdeckungen, dass Steinbeck das Vertrauen seiner Leser missbraucht habe. Wie urteilen Sie darüber?
Steinbecks Projekt ist gescheitert. Das ist auch die Tragödie eines großen Schriftstellers. Mehr und mehr vermischt er seine eigenen Gedanken mit den Gedanken über sein Land. Er bezeichnet Amerika als verrottenden Leichnam und schreibt in Wirklichkeit über sich selbst. Das wusste er sehr genau. Zu Hause hat er versucht, das am Schreibtisch zu reparieren. Mit viel Fiction. Das Buch ist keine Fotografie des Landes, aber ein sehr schönes Aquarell.
Welche Rolle haben Drogen auf Steinbecks Reise gespielt?
Er hat sich in den 1960er Jahren immer sehr kritisch über die Jugendbewegung geäußert, über deren Drogenkonsum etc. Sein Sohn berichtet aber, dass Steinbeck selbst begeisterter Speed-User war. Da war also auch viel Amphetamin in dieser Reise dabei.
Ihr eigenes Porträt der USA ist auch eine Bestandsaufnahme von Fakten und Fiktionen, zwischen denen sich das Land bewegt. Was sind die wichtigsten Mythen, die für Amerika heute problematisch sind?
Da ist die Fiktion von Amerika als dem neuen Israel, God’s Blessed Country, das beste Land der Welt, mit diesem religiös-messianische Impetus. Gleichzeitig die aufklärerische Tradition, der Glaube, alles sei machbar und nur eine Frage der technischen Umsetzung. Dass man wirklich glaubt, man könne innerhalb von zwei Jahren im Irak eine funktionierende Demokratie errichten. Und sich immer noch für den einsamen Fackelträger von Demokratie und Gerechtigkeit hält.
Und dann ist da das für die Gründung der USA fundamentale Ideal der Gleichheit.
Genau. Als Tocqueville 1831 durch Amerika reiste, schildert er diese ihn verblüffende Situation, wo ein Bankier mit einem Straßenfeger in regem Gespräch über städtische Politik vertieft ist. Und dann Shakehands – und jeder geht wieder seiner Wege. Das wäre im damaligen Europa undenkbar gewesen, dieser fehlende Standesdünkel. Das hat sich natürlich längst geändert und ist aus der Balance geraten. Dieser Mythos der sozialen Mobilität, der Zeitungsverkäufer in New York, der Millionär wird, das stimmt ja schon lange nicht mehr.
Das Thema Ungleichheit ist auch in den Gesprächen, die Sie auf Ihrer Reise geführt haben, ständig präsent. Da spiegelt sich immer wieder die Härte des gegenwärtigen Lebens dort. Und eine resignative Wut angesichts der Ungleichbehandlung von Haves und Have Nots.
Das ist etwas historisch Neues. Zwei Drittel der Amerikaner glauben heute nicht mehr an eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Das amerikanische Ideal war aber immer, es wird besser und besser gehen. Gleichzeitig ist aber die Hilfsbereitschaft untereinander immer noch unglaublich groß. Man kann sich ja kaum auf staatliche Instanzen oder Ämter verlassen. Stattdessen sind die Kirchen und Schulen zu Beispiel nach wie vor wichtige soziale Zentren. Das sollte man nicht unterschätzen, da sind immer noch sehr viele Menschen, die versuchen, das mit großem Idealismus zusammenzuhalten.
Dennoch zeugen viele der von Ihnen gesammelten Geschichten vom wirtschaftlichen und sozialen Niedergang und dem Verfall des öffentlichen Lebens.
Das gilt vor allem für das Durchschnittsamerika, das ländliche Fly-over-Country, durch das ich vornehmlich gereist bin. Da ist die Infrastruktur oft auf dem Stand eines Entwicklungslands. Und das Problem ist, dass die meisten Amerikaner keine Ahnung haben, wie unterentwickelt ihre eigene Region teilweise ist. Die können ja nicht wie die Reichen in der Welt herumreisen und sich ein eigenes Bild machen. Und Medien à la Fox News verstärken das. Die machen die Welt zur Karikatur. Amerika ist gut, der Rest ist gefährlich. Da sieht man Sendungen über Europa und denkt, man ist in Kabul. Gleichzeitig fährt man auf Detroit zu, wo man sich abends wirklich nicht mehr auf die Straße traut.
Trotzdem sind Sie nicht pessimistisch?
Es gibt überall in Amerika auch Inseln des Reichtums, der Innovation und Progressivität. Wo ein Bewusstsein existiert, dass sich etwas ändern muss. Meine Sorge ist nur, dass das auf diese Inseln beschränkt bleibt und die verschiedenen Welten einander nicht mehr erreichen. Die Progressiven bleiben in ihren Berkeleys, und die Konservativen bleiben in Texas ebenfalls unter sich.
Und der Extremismus, der sich auf der politischen Ebene austobt und sie schachmatt setzt, ganz zu schweigen vom immensen Einfluss des Geldes auf die Politik – auch da sehen Sie nicht schwarz?
Die Korruption in der Politik ist ein großes Problem. Das hat man beim Thema Gun-Control wieder gesehen. Es gibt inzwischen eine Bevölkerungsmehrheit, die will, dass sich da was ändert. Dagegen hat sich die National Rifle Association zwar mit sehr viel Geld durchgesetzt. Aber auf Dauer kommt man damit nicht durch. Und auch die Republikaner geraten mit ihrer Blockadepolitik immer stärker in die Defensive, wenn sie diesen Wertewandel ignorieren.
Sie setzen auf einen Wertewandel, der auch durch die Demografie begünstigt wird?
Das ist meine große Hoffnung. Die Migranten, die nach wie vor ins Land strömen, aus Südamerika, Asien etc., das sind sehr interessante Gruppen. Wertkonservativ, hohe Arbeitsmoral, gleichzeitig aber nicht staatsfeindlich. Für ein funktionierendes Gemeinwesen sind die auch bereit, Steuern zu zahlen. Das kann dem Land eine neue Dynamik geben, eine Modernisierungsprozess in Gang setzen, die Amerika dringend braucht.
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