: Geduldig bleiben?
■ Friedliches Nebeneinander ist törichte Illusion
Die besonnene Reaktion des demokratischen Deutschland auf die jüngsten Gewaltmaßnahmen der Ostberliner Provokateure sollte die Welt nicht darüber hinwegtäuschen, daß die politische Atmosphäre in Deutschland zur Zeit bis zum Zerreißen gespannt ist. Die Demonstrationen in Ost- und West -Berlin am Sonntag sind zwar ohne Blutvergießen vorübergegangen, aber der Haß, der Abscheu jener Berliner Demonstranten gegen das mitteldeutsche KZ-Regime wird von Millionen Menschen in unserem Volke geteilt. Es bedarf vielleicht nur noch eines geringfügigen Anlasses, um die Massen in Bewegung und die weiteren Geschehen in Deutschland außer Kontrolle zu bringen.
Der ständig unter politischem Überdruck stehende Kessel „DDR“ stellt, nun von Ulbricht sorgfältig verstopft, eine akute Kriegsgefahr für die ganze Welt dar. Niemand kann voraussagen, wie sich die Dinge in den kommenden Wochen und Monaten entwickeln werden, niemand darf sich darauf verlassen, daß die Deutschen beiderseits der Zonengrenze für alle Zeiten geduldig den Kolonialstatus der Zone akzeptieren werden.
Hier liegen die eigentlichen, die wirklichen Gefahren jener von Herrn Ulbricht erbetenen und nur zu gern befolgten Empfehlungen der Ostblockstaaten, das Zuchthaus „DDR“ hermetisch abzuriegeln. Sie sind um so größer, weil der Westen leicht durch die Tatsache zu beruhigen sein wird, daß der Kreml geschickterweise seinen Beauftragten in Ost-Berlin vorerst nicht gestattete, auch noch die Rechte der Alliierten in der deutschen Hauptstadt anzutasten. Zu spät hat man erkannt, daß die Bedrohung des Friedens durch den Osten durch Maßnahmen erfolgen werde, die sich ausschließlich gegen die Deutschen selbst richten.
Man darf gespannt sein, wie die freie Welt die neuerlichen Rechts- und Vertragsbrüche der Kommunisten hinnehmen wird, und ob sie vor allem nun endlich begriffen hat, daß sie sich mit ihrer rein defensiven Status-quo-Politik in der Deutschland- und Berlin-Frage allmählich in eine völlig unhaltbare Position gegenüber dem Osten hineinmanövriert. An diesem Tage wurde endgültig offenbar, daß die Spaltung Deutschlands wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft eine ernst Gefährdung des Weltfriedens darstellt. Daß alle Spekulationen auf die Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinanderlebens zwischen dem faschistisch -kommunistischen Zonenregime in Mitteldeutschland und dem parlamentarisch-demokratischen System in Westdeutschland törichte Illusionen sind.
'Freie Demokratische Korrespondenz‘, 14.August 1961
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen