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Gedenken in SerbienSchweigen für die Toten, Wut auf die Verantwortlichen

In Novi Sad gedenken Zehntausende des Einsturzes eines Bahnhofsvordachs vor genau einem Jahr. Die Mutter eines Opfers kündigt einen Hungerstreik an.

Gedenken an die 16 Toten, die vor einem Jahr beim Einsturz eines Bahnhofsvordachs ums Leben kamen Foto: Marko Djurica/rtr

Von

Krsto Lazarević aus Novi Sad

Zehntausende Menschen erinnerten am Samstag an den tödlichen Einsturz des Bahnhofsvordachs von Novi Sad. Um 11.52 Uhr schwieg die riesige Menschenmenge vor dem Bahnhof für genau 16 Minuten – eine Minute für jedes der 16 Opfer.

Wie still eine solche Menschenmenge sein kann, wenn sie gemeinsam schweigt. Ein Chor stimmte danach ein Trauerlied an, die Anwesenden legten unzählige Blumen vor dem Bahnhof nieder.

Da die Studierenden, die die Gedenkfeier organisiert haben, im Vorfeld darum gebeten hatten, keine Flaggen mitzubringen, ähnelte der Protest mehr einer riesigen Trauerfeier als einer politischen Demonstration.

Erst später, als Reden gehalten und Gedichte rezitiert wurden, wurde es politischer: Die Studentin Nađa von der philosophischen Fakultät in Novi Sad beklagte Verantwortungslosigkeit der Regierung. Nicht die Schwerkraft, sondern die Korruption der Machthaber habe die Menschen getötet: „16 Opfer, null Verantwortung und dieselbe Botschaft – ihre Hände sind blutig.“

Menschen füllen die Straßen in der Nähe des Bahnhofs am ersten Jahrestag der Bahnhofskatastrophe in Novi Sad Foto: Armin Durgut/AP/dpa

Die pensionierte Anklägerin Jasmina Paunović appellierte an die Menschen, im Land zu bleiben, weil „die Sonne nirgends anders so wärmt“ – bei 25 Grad und Sonne im November wirkte das tatsächlich wie ein gutes Argument. Dass Serbien zu einem Land werden soll, in dem junge Menschen auch außerhalb der korrupten Strukturen der Regierungspartei SNS eine Perspektive haben, ist eines der Leitmotive des seit einem Jahr andauernden Protests.

Emotional wurde es, als Dijana Hrka, die Mutter des beim Einsturz getöteten Stefan Hrka, ans Mikrofon trat. Sie müsse endlich erfahren, wer ihren Sohn und die anderen 15 Menschen getötet habe, sagte sie und kündigte gleich darauf an, dafür in den Hungerstreik zu treten – direkt vor dem Rathaus in Belgrad. Dort, wo ein Zeltlager von Anhängern des serbischen Präsidenten Aleksandr Vučić steht. Dijana Hrka bekräftigte auch die zentrale Forderung des Protests: Vučić müsse endlich Neuwahlen ausrufen.

Ausgefallene Züge, keine Berichterstattung

Dass so viele Menschen nach Novi Sad gekommen sind, ist nicht selbstverständlich. Am Dienstag vor der Demonstration wurde kurzfristig bekannt gegeben, dass große Bauarbeiten auf fast allen Zufahrtsstraßen stattfinden sollen. Am Tag vor dem Protest war der Zugverkehr nach Novi Sad eingestellt worden – angeblich wieder wegen einer Bombendrohung.

Mit derselben Begründung wurde bereits vor der großen Demonstration in Belgrad am 15. März 2025 der Zugverkehr gestoppt. Das System Vučić klappt buchstäblich die Bürgersteige hoch, um zu verhindern, dass Menschen gegen es protestieren können. Der Massenbewegung tut das bisher keinen Abbruch.

Dann eben zu Fuß

Aus dem rund 80 Kilometer entfernten Belgrad machten sich wie auch aus anderen Städten Tausende zu Fuß auf den Weg. Viele übernachteten in der Kleinstadt Inđija, auf Styropormatten mitten in der Innenstadt. Als sie in der Nacht vor der Demonstration in Novi Sad ankamen, wurden sie von einer Menschenmenge mit Bengalos und Feuerwerk empfangen.

In den regierungsnahen Fernsehsendern – andere empfangen die meisten Menschen in Serbien nicht – war von alldem nichts zu sehen. Während der Großdemonstration zeigte der öffentlich-rechtliche Sender RTS 1 alte jugoslawische Filme.

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