■ Gedanken im Abseits der deutschen Kurdendebatte: Die ethnische Brille der Linken
In Deutschland ist eine grundsätzliche Diskussion über den Begriff der Nation im Gange. Diese Diskussion wurde durch die Einwanderung nach Deutschland in den letzten dreißig Jahren herausgefordert und durch die wiedergefundene deutsche Einheit erst richtig ausgelöst. Wer sind die Deutschen? Wer gehört dazu? Wer nicht? Welche Kriterien schaffen Zusammengehörigkeit? Wie sind Zusammengehörigkeit und Fremdheit aufeinander bezogen?
Die Teilnehmer an der Diskussion spalten sich grob gesehen in zwei Lager: Die einen vertreten ein republikanisches Verständnis von Staat und Nation, das sich an modernen, offenen Gesellschaften orientiert und Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Sprache und Religion unter dem Dach der Verfassung des Staates und seiner Organe zu vereinen versucht. Die anderen dagegen vertreten ein völkisches Verständnis von Staat, Kultur, Volk und Nation, das um des Zieles der Zusammengehörigkeit willen eine Einheit zwischen diesen Begriffen voraussetzt. Ethnische Herkunft, d.h. deutsches Blut, die deutsche Sprache als Muttersprache und der deutsche Boden sind untrennbare Bestandteile der deutschen Identität. Als Differenz wird gerade noch die zwischen den Konfessionen akzeptiert: im Normalfall die zwischen evangelisch und katholisch, in etwas liberaleren Ausnahmefällen zählt auch die jüdische Religion dazu. Der Staat und die Verfassung sind lediglich Produkte dieser Gemeinschaft und nicht ihr Fundament.
Beide Grundmuster haben ihre Schwächen. Die erste Variante bleibt oft zu abstrakt, kann Fremdheitsgefühle nicht auffangen. Ihre Verfechter sind in Konfliktfällen oft rat- und hilflos. Die zweite Variante scheint nicht nur historisch überholt zu sein, sie ist in Deutschland auch durch die Naziideologie extrem belastet. Sie kann die Herausforderungen, die durch die Einwanderung unterschiedlicher Völker nach Deutschland entstehen, nicht auffangen. Folglich phantasieren die Anhänger dieser Variante allzu gerne von der Rückführung der Einwanderer in ihre Heimat, zumindest eines Teils, um den Frieden der deutschen Nation zu erhalten.
In den Debatten um diese Konzepte scheint sich die deutsche Gesellschaft in einen politisch links und einen politisch rechts orientierten Flügel aufzuteilen. Die links-alternative tageszeitung und die rechtskonservative Frankfurter Allgemeine und die Welt bilden die publizistischen Antipoden.
Der Streit, der jetzt um den Kurdenkonflikt in der Türkei und in Deutschland entbrannt ist, verdeutlicht nun, daß diese Polarisierung nicht länger aufrechterhalten werden kann. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, daß die Kurdenfrage nicht nur ein türkisches Thema ist, sondern auch ein deutsches. Das hat weniger mit deutschen Waffenlieferungen in die Türkei zu tun – die USA spielen hierbei eine viel bedeutendere Rolle – als mit der Tatsache, daß zwei Millionen Menschen aus der Türkei, mit unterschiedlicher ethnischer Herkunft, in Deutschland leben. Türken und Kurden mit deutschem Paß sind noch eine kleine Minderheit, aber ihre Zahl wächst.
Menschen mit türkischem Paß werden in Deutschland jetzt verstärkt nach ihrer ethnischen Herkunft in Türken und Kurden aufgeteilt. Die Bevölkerung der Türkei aber besteht aus über zwanzig ethnischen Gruppen. Es wäre anzunehmen, daß diejenigen, die für eine nichtethnische Definition der Nation eintreten, beim Ziehen solcher ethnischer Grenzen zumindest zurückhaltend sind. Doch genau das Gegenteil davon passiert: Die deutsche Linke, allen voran die Grünen, entpuppen sich in ihrem Denken als nicht weniger ethnisch fixiert als die deutschen Rechten. Von „fünfhunderttausend Kurden“ in Deutschland ist die Rede. Fast alle diese Kurden haben die türkische Staatsangehörigkeit. Einige bereits die deutsche. Was sind sie nun: Kurden, Türken oder Deutsche?
Der deutsche Außenminister Kinkel sagte von seinem türkischen Amtskollegen, daß er „übrigens ein Kurde“ sei. Ethnisch gesehen hat er vielleicht recht. Aber hat er Herrn Çetin gefragt, wie dieser sich selbst bezeichnet? Als was er sich selbst fühlt? Kurden in der Türkei, die sich als türkische Staatsbürger fühlen und keine andere Sprache als Türkisch sprechen, sind in den Augen kurdischer Nationalisten Verräter. Die gleiche Logik verbietet auch jedem Türken, sich als Deutscher zu fühlen. Es entsteht ein Zuordnungs- und Mobilisierungszwang, der politisch mißbraucht wird.
Statt die Menschen selbst danach zu fragen, als was sie sich bezeichnen würden, wird ihnen von außen eine bestimmte Identität zugeordnet. Einziges Kriterium dafür ist ihre ethnische Herkunft. Niemand kommt auf die Idee, daß sie vielleicht mehrere Identitäten haben als nur eine, daß vielleicht nicht die Türkei oder Kurdistan ihre Heimat ist, sondern Deutschland.
Nicht anders dachte Adolf Hitler, als er die Juden von den übrigen Deutschen sonderte. Dabei war nicht die Sprache oder gar die Religion das entscheidende Trennungsmerkmal, sondern die sogenannte rassische, also ethnische Herkunft. Juden, die zum Christentum konvertiert waren, die als Muttersprache Deutsch sprachen, die in Kriegen für Deutschland ihr Leben gelassen hatten, wurden zu „ewigen Juden“ gemacht. Noch heute glauben viele nichtjüdische Deutsche, daß die eigentliche Heimat der deutschen Juden nicht Deutschland, sondern Israel ist.
Aufgrund eines solchen Denkens wird in Deutschland niemals eine moderne, offene und multikulturelle Gesellschaft entstehen. Denn der Pluralismus in modernen Gesellschaften beruht nicht oder nicht ausschließlich auf einer ethnischen Vielfalt, sondern auf einer kulturellen. Der Erfolg solcher Gesellschaften zeichnet sich durch ihre Integrationskraft aus. Die Türkei ist ein gutes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn diese Kraft nicht auf der freiwilligen Selbstbestimmung aller Bürger, sondern auf der Gewalt einer Staatsideologie beruht. Erst die Aberkennung der kulturellen Identität der Kurden in der modernen Türkei führte zur Ethnisierung des Konflikts. Zusätzlich verschärft wurde er nach 1980 durch das von den putschenden Militärs erlassene und inzwischen wieder aufgehobene Verbot der kurdischen Sprache. Wenn aber im Gegenzug zur gelungenen oder gescheiterten Integrationskraft des Staates ethnische Grenzen hervorgehoben werden, ist die Folge nicht kulturelle Vielfalt und Vermischung, sondern Krieg und Zerstörung des Andersartigen.
Es ist an der Zeit, daß die deutsche Linke und die Nationalisten, egal welcher Herkunft, über ihre eigenen Widersprüche und Lügengebäude nachdenken. Wie groß ist jedesmal die Entrüstung unter ihnen, wenn die Einwanderer in Deutschland als „Gäste“ bezeichnet werden. Niemand aber scheint Notiz davon zu nehmen, wenn kurdische Nationalisten, die in Deutschland leben und einen deutschen Paß besitzen, von ihrem gerechten Befreiungskampf in Kurdistan sprechen. Oder wenn sie Verständnis dafür aufbringen, daß die PKK Deutschland nach der Türkei zum Kriegsgegner Nummer zwei erklärt.
Die multikulturelle Gesellschaft ist kein Selbstbedienungsladen. Sie läßt wechselnde Interpretationen von Zugehörigkeit je nach eigenem Vorteil nicht zu. Türken und Kurden in Deutschland, die ungebrochen von ihrer Heimat Türkei oder Kurdistan reden, sind nichts anderes als Gäste. Sie können nur vorübergehende Erscheinungen im multikulturellen Deutschland sein und keine aktiven Gestalter in dieser Gesellschaft. Wenn sie den deutschen Paß besitzen, tun sie nichts anderes, als diesen zu mißbrauchen. Und wenn sie sich gar mit Haß und Gewalt gegen diese Gesellschaft richten, haben sie darin auch keinen Platz.
Durch das widersprüchliche und zwiespältige Verhalten mancher „Einwanderer“ und ihrer selbsternannten deutschen Sympathisanten wird der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland ein Bärendienst erwiesen. Davon profitieren nur diejenigen, die kulturelle Vermischungen verpönen, in der Vielfalt von Identitäten nur Krisen und Konflikte sehen und vor solchen praktischen Konfliktlösungen wie der doppelten Staatsbürgerschaft warnen. Ihr Kassandraruf reicht in diesen Tagen weit. Er wird von allen getragen, die sich bewußt oder unbewußt von einem engen ethnischen Denken leiten lassen. Zafer Șenocak
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