Geberkonferenz für palästinensische Flüchtlinge: Nahr el-Bared - im Reich der Ratten
Der Krieg zerstörte im Herbst 2007 das Flüchtlingslager Nahr el-Bared im Norden Libanons. 30.000 Palästinenser verloren ihre Zuflucht. Jetzt soll eine Konferenz den Wiederaufbau anschieben.
Eine gespenstische Trümmerwüste erstreckt sich dort, wo bis zum vergangenen Jahr noch das Zentrum des Palästinenserlagers Nahr el-Bared lag. Der einstige Lebensmittelpunkt der 30.000 Lagerbewohner ist übersäht mit auseinandergerissenen Betonteilen, die früher die Wände und Decken der Häuser ausmachten. Unmotiviert ragen die verbogenen Stahlträger der Gebäude wie ein von Geiern übrig gelassenes zerbrochenes Tiergerippe in die Luft.
Bis vor neun Monaten hatte sich hier, im Norden des Libanon unweit der Stadt Tripoli, die libanesische Armee mit der militanten Islamistengruppe Fatah al-Islam, deren von al-Qaida inspirierten Kämpfer sich im Lager verschanzt hatten, eine erbarmungslose Schlacht geliefert. Anfang September 2007 übernahm die libanesische Armee die Kontrolle über das Lager. In den vorangegangenen, fast vier Monate andauernden Kämpfen starben nach libanesischen Angaben 179 Soldaten, 226 Fatah-al-Islam-Kämpfer und 50 Zivilisten. Die heiligen Krieger, die meisten von ihnen nicht Palästinenser, sondern Libanesen und andere arabische Nationalitäten, hatten bis dahin im Lager ein ideales Rückzugsgebiet gefunden. Denn Nahr el-Bared lag außerhalb jeder staatlichen Gewalt. Palästinenserlager im Libanon waren ein Art staatlose Enklaven, in denen weder die libanesische Armee noch die Polizei Macht ausübte.
Die Armee zögerte, auch aufgrund der hohen eigenen Verluste, das Lager in einem Kampf von Haus zu Haus zu erobern. Nachdem die meisten Lagerbewohner in der ersten Woche der Kämpfe geflohen waren, nahm die Armee das Lager unter Artilleriebeschuss und bombardierte es mit Hubschraubern aus der Luft. Je größer der Frust über die eigenen Verluste wurde, desto wahlloser wurde der Beschuss, erzählen ehemalige Lagerbewohner. Auf die Frage, ob denn heute noch Menschen im alten Teil des Lagers leben, hat der zweite UNRWA Projektmanager Muhammad Abdul Aal nur ein Lachen übrig. "Das alte Lager ist heute nur noch das Reich der Ratten", fasst er die Lage zusammen.
Am Montag beginnt in Wien die internationale Geberkonferenz für den Wiederaufbau des Flüchtlingslagers Nahr el-Bared. Zur Konferenz in der Wiener Hofburg, die Österreich auf Ersuchen der libanesischen Regierung organisiert hat, werden neben dem libanesischen Premier Fuad Siniora und dessen palästinensischen Amtskollegen Salam Fayyad auch der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner und Vertreter aus 50 Staaten erwartet.
Das seit 1949 bestehende Lager mit rund 30.000 Bewohnern wurde während einer vier Monate dauernden Operation der libanesischen Armee fast vollständig zerstört, nachdem sich die militante sunnitische Islamistengruppe Fatah al-Islam dort verschanzt hatte. Das UN-Flüchtlingswerk für Palästinenser UNRWA und die libanesische Regierung hoffen auf 445 Millionen Dollar, mit denen das Lager, auch als Modell für die anderen elf Palästinenserlager im Libanon erneut aufgebaut werden soll. GAW
Über den Eingang zum Lager wacht die libanesische Armee. Journalisten sind hier nicht willkommen. Zahlreiche Offiziere und Geheimdienstleute überprüfen das Schreiben der Armeeführung, das den Zutritt zum Lager genehmigt. Vor allem den völlig zerstörten alten Lagerkern würde man der Öffentlichkeit lieber vorenthalten. Dort, wo die libanesischen Fahnen an den Straßensperren der Armee nur noch über Trümmerfeldern wehen.
Der Österreicher Wilfried Schlosser ist sei 40 Jahren darauf spezialisiert, dort zu arbeiten, wo nach einem Konflikt nichts mehr steht. Sein letzter Einsatz war in Afghanistan. Seit drei Wochen ist er nun in Nahr el-Bared, um dort den Wiederaufbau des Lagers zu organisieren. Das ist die "Zone Rot", erklärt er und deutet vom Dach eines der Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft des zerstörten alten Lagers über die Schuttlandschaft. "Rot", das bedeute, dass dort noch jede Menge nicht explodierter Granaten herumliegen, sagt er. Sogar fünf bis sechs bis zu 1.000 Pfund schwere nicht explodierte Fliegerbomben sollen noch irgendwo unter dem Schutt liegen.
Wie gefährlich die Arbeit ist, zeigt ein vereinzelter Bagger, der die wenigen noch stehenden Gebäudestrukturen zum Einsturz bringen soll. Der Baggerführer arbeitet mit Helm, Gesichtsschutz und einer Weste, die ihn vor Granatsplittern schützen soll. Erst vor kurzem war im einstigen UNRWA-Büro im Lager, dort wo früher eine Klinik, fünf Schulen und das UNRWA-Verwaltungsgebäude standen, bei Aufräumarbeiten ein Blindgänger hochgegangen.
Mit Mitteln aus der in Wien stattfindenden internationalen Geberkonferenz zum Wiederaufbau Nahr el-Bareds (siehe Kasten) soll erst mal der Schutt entfernt werden. "Das sind 600.000 Kubikmeter, und je nachdem wie viele nicht explodierte Granaten die Entminungsteams dort finden, werden wir mindestens ein Jahr dazu brauchen, alles wegzuschaffen", erklärt Schlosser. "Dort liegt das Leben tausender Menschen begraben, ihr Schmuck, ihre Erinnerungen, ihre Fotoalben, ihre Dokumente und sicherlich auch noch einige Körperteile", fährt er fort. Die Dokumente und Wertgegenstände sollen nach den Aufräumarbeiten der UNRWA, die Körperteile zur Identifizierung den libanesischen Behörden übergeben werden.
Einige tausend Palästinenser sind nach dem Ende der Kämpfe wieder in ihre Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft des alten Lagerkerns zurückgekehrt. Einer von ihnen ist Abu Hussein Tuham. Sein Haus ist das letzte Gebäude, das Richtung Süden am Rand des alten Lagerkernes noch steht. Von seinem Fenster aus blickt er, so weit das Auge reicht, auf eine Trümmerlandschaft. Während der Kämpfe war er ins benachbarte Lager Bedawi geflüchtet. Vor sechs Monaten ist er zurückgekehrt, erleichtert, dass sein Haus noch steht und entsetzt von der Zerstörung um ihn herum. "Außer unserem Leben haben wir hier alles verloren", resümiert er. Seine Tochter Nadja schleppt ein paar Fünfliter-Wasserflaschen auf das Dach und stellt sie zu einer Reihe anderer in die Sonne. "Wir profitieren hier von der Sonnenenergie", witzelt Yussuf Abu Hajar, ein anderer junger Bewohner des Hauses. Mit nur zwei Stunden Strom am Tag, produziert aus den Generatoren, die die UNRWA zur Verfügung gestellt hat, ist das die einzige Möglichkeit, warmes Wasser zu bekommen.
Es gibt hier absolut nichts zu tun, erzählt Yussuf. Er hänge den ganzen Tag auf der Straße herum, nachdem er mittags aufgewacht ist und wartet, bis es wieder Nacht wird und er schlafen gehen kann", beschreibt der 21-Jährige seinen Tagesablauf. Eigentlich ist er Fußballfan und würde sich gerne die Spiele der Fußballeuropameisterschaft ansehen. Aber ohne Strom kein Fernseher.
Yussuf bleibt meistens im Lager. Die libanesische Armee am Eingang macht vor allem den jugendlichen Palästinensern das Leben schwer. Yussuf hatte in Tripoli vor den Kämpfen seinen Abschluss als Hotelfachmann gemacht. Aber, sagt er, junge Palästinenser aus dem Lager haben kaum eine Chance, Arbeit zu finden. "Wir werden sofort als Extremisten aus Nahr el-Bared abgestempelt", gibt er seine Erfahrung wider. Ein Zeichen für das fortdauernde Misstrauen zwischen Libanesen und den palästinensischen Flüchtlingen.
Yussufs Freund Ahmad geht es ähnlich: "Wir Palästinenser sind hart im nehmen", äußert er fast ein wenig stolz. Seine Eltern haben ihm immer Geschichten von der Flucht bei der Gründung Israels vor 60 Jahren erzählt. Das hier sei aber noch schwerer, weder er noch sein Vater finden Arbeit, erzählt er. Auch Salim Hassan Aql beschreibt die Zerstörung des Lagers als die zweite Nakba, die zweite Katastrophe, nach der Vertreibung der Palästinenser bei der Gründung Israels 1948. Seine Familie, die einst im heutigen Norden Israels lebte, war in den Libanon geflohen und wurde dort in Nahr el-Bared angesiedelt. Salim besteht darauf, sein Haus nicht noch einmal zu verlassen, obwohl ihm die UNRWA einen Mietzuschuss von 200 Dollar im Monat angeboten hat, um zeitweilig woanders unterzukommen.
Denn von Salims Haus am Rande des alten Lagers steht eigentlich nur noch das Erdgeschoss. Dort leben sie zu zwölft: Salim, seine Frau, die Kinder und Enkelkinder. Im ersten Stock hängt ein Teil der Betondecke in den Raum, die Außenfassade ist weggesprengt. Der zweite Stock hat weder eine Außenmauer noch eine Decke. Das Lager war früher sehr lebhaft mit vielen Länden und sogar Cafes. "Wir haben kaum etwas von draußen gebraucht", erinnert sich Salim und macht einen Pause "Jetzt ist alles kaputt".
Im zwei Autostunden entfernten Beirut residiert Richard Cook, der Chef der UNRWA im Libanon. Er wisse, der Zeitpunkt für die internationale Geberkonferenz in Wien sei ungünstig, mitten im Finanzjahr und auch noch während der Fußball-EM in Wien, beginnt er. Aber, es gebe keine Alternative dazu. Bis Ende des Jahres würde der UNRWA das Geld für ihr Nahr-el-Bared-Notprogramm ausgehen, von einem Wiederaufbau des Lagers ganz zu schweigen. "Der Konflikt um Nahr el-Bared war eine Angelegenheit des globalen Antiterrorkampfes", endet Cook sein Plädoyer, "den Menschen jetzt dort zu helfen und Stabilität zurückzubringen, ist eine Fortsetzung davon".
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