Gaza: "Ihr bringt uns noch alle um"
Im Gaza-Streifen geht die Angst um vor einem langen Bürgerkrieg. Keine Seite kann die andere auf die Dauer niederzwingen
"Ihr bringt uns noch alle um"
Im Gaza-Streifen geht die Angst vor einem langen Bürgerkrieg um. Keine Seite kann die andere auf die Dauer niederzwingen
AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY
Noch scheint nicht der ganze Gaza-Streifen vom Wahnsinn getrieben. Mehrere hundert Demonstranten, Oberhäupter von einigen Familienclans, Frauen, Kinder wagten sich am Mittwoch mit ihren grünweißroten palästinensischen Nationalflaggen auf die Straße. Sie marschierten genau zwischen die Fronten der bewaffneten jungen Männer der Hamas und der Fatah, die sich seit Tagen im Kampf um die Macht im Gaza-Streifen blutige Gefechte liefern. "Hört auf zu schießen", riefen sie, "ihr bringt uns noch alle um!" Und als ob die Bewaffneten auf beiden Seiten diesen letzten Teil des Aufrufs wahrmachen wollten, begannen sie, aufeinander zu schießen. Die Demonstranten fanden sich mitten in der Feuerlinie wieder. Einige duckten sich, andere riskieren ihr Leben, indem sie mit bloßen Fäusten auf die Männer mit den Kalaschnikows losgingen, um ihnen Einhalt zu gebieten. Es sind Szenen der Verzweiflung, die sich in Gaza abspielen.
Und nichts deutet darauf hin, dass die Gewalttätigkeiten demnächst enden. Die Angst vor einem langen, offenen Bürgerkrieg geht um, zumal keine Seite stark genug ist, die andere auf die Dauer niederzuzwingen. Erste Scharmützel im Westjordanland lassen befürchten, dass sich der Konflikt noch ausweiten könnte. "Das Westjordanland ist nicht immun gegen diese Gewalt", warnte gestern denn auch der unabhängige palästinensische Außenminister Siad Abu Amr.
Möglich ist auch, dass sich beiden Seiten vornehmlich dort etablieren, wo sie am stärksten sind, die Hamas im Gaza-Streifen und die Fatah im Westjordanland. Die Hamas am Mittelmeer, die Fatah am Jordan: Es wäre das erste Mal seit 40 Jahren israelischer Besetzung, dass sich die palästinensischen Gebiete auseinanderdividieren lassen.
Und das, obwohl die Konkurrenz zwischen Fatah und Hamas alles andere als neu ist. Die Fatah ist auf eher nationalistischen und säkularen Prinzipien aufgebaut. Die Fatah-Führung, an der Spitze der 2004 verstorbene Jassir Arafat, hatte 1993 in Oslo einen Friedensprozess mit Israel auf Grundlage einer Zweistaatenlösung begonnen. Nicht nur dass die Fatah in dieser Frage bisher mit leeren Händen dasteht, auch ihr korrupter Verwaltungsstil hat sie in den letzten Jahren viele Anhänger gekostet.
Profitiert davon hat die Hamas, die sich als islamische Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung sieht. Sie stellt sich bisher gegen jegliche Verhandlungen mit Israel.
Verschärft hat sich die Rivalität beider Gruppen nach dem Abzug der israelischen Armee und der darauf folgenden Abgrenzung des Gaza-Streifens von der Außenwelt. 1,4 Millionen Menschen leben bei einer Arbeitslosenquote von 80 Prozent in einem Art überdimensionalen Freiluftgefängnis. Israel hat die direkte Besetzung des Gaza-Streifens aufgegeben, abgesperrt und den Schlüssel mitgenommen. Die Palästinenser antworteten darauf, indem sie bei den Wahlen im Januar letzten Jahres ihre Stimmen mit absoluter Mehrheit der Hamas gaben. Alle Versuche eines Hamas-Fatah-Joint-Ventures scheiterten stets daran, dass die Fatah einen Juniorstatus nicht akzeptiert und die Hamas sich weigerte, mit Israel in Verhandlungen zu treten.
Doch auch der Westen trägt eine Mitschuld an der heutigen Misere im Gaza-Streifen.
Ungewöhnlich offen äußerte sich der frühere Spitzendiplomat der Vereinten Nationen in Israel, Álvaro de Soto, dazu in einem 53-seitigen Papier, das zwar nicht für die Öffentlichkeit gedacht war, aber dennoch am Mittwoch von der britischen Tageszeitung The Guardian in Teilen abgedruckt wurde. Darin kritisiert de Soto vor allem die einseitige Rolle der USA im Nahostkonflikt. Der Boykott westlicher Länder gegen die Hamas-geführte Regierung habe sich "bestenfalls als extrem kurzsichtig" erwiesen und habe zu "verheerenden Konsequenzen geführt", schreibt er. Das Nahostquartett, die USA, Russland, die Europäer und die UN, hätten sich selbst aufs Abstellgleis manövriert, indem sie ihren Friedensplan, die Roadmap, aufgegeben hätten. Stattdessen hätten sie sich in ein Gremium verwandelt, das zu Sanktionen gegen die Hamas-Regierung aufrief - eine Regierung, die immerhin von der Mehrheit der Palästinenser gewählt worden sei, führt de Soto aus. Das Nahostquartett habe den unter Besetzung lebenden Palästinensern unannehmbare Bedingungen für einen Dialog gestellt, moniert er. Er behauptet sogar, dass Washington die Konfrontation von Fatah und Hamas vorangetrieben habe. "Mir gefällt diese Gewalt ..., denn sie bedeutet, dass andere Palästinenser Widerstand gegen die Hamas leisten", zitiert de Soto einen nicht namentlich genannten US-Regierungsbeamten.
In dieser verfahrenen Lage können sämtliche Versuche, zwischen Hamas und Fatah zu vermitteln, als hoffnungslos bezeichnet werden. Einem Scherbenhaufen gleicht das mit Hilfe saudischer Vermittlung zustande gekommene Mekka-Abkommen, auf dessen Basis die palästinensische Einheitsregierung von Fatah und Hamas gebildet wurde. Auch alle ägyptischen bescheideneren Versuche, wenigstens einen Waffenstillstand zwischen den Rivalen zu erreichen, sind gescheitert. "Ich gebe auf", erklärte nun der sichtlich deprimierte ägyptische Chefunterhändler Oberstleutnant Burhan Hamad. Später hatte Hamad als letztes Mittel am Dienstagabend im palästinensischen Fernsehen die Einwohner von Gaza dazu aufgerufen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, auf die Straße zu gehen und gegen die bewaffneten Auseinandersetzungen zu demonstrieren.
Die wenigen hundert, die gestern mutig seinem Aufruf folgten, zahlten einen hohen Preis. Mehr als ein Dutzend wurden durch Schusswunden verletzt, zwei von ihnen starben. Sie konnten zunächst nicht abtransportiert werden. Kein Krankenwagenfahrer wagte es, bei den fortwährenden blinden Schusswechseln zwischen Fatah und Hamas in Gaza auszurücken.
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