Gauck und die Muslime: "Er spaltet und grenzt aus"
Gaucks Gerede von "Überfremdung" grenzt Migranten aus, sagt Aylin Selcuk. Seine Teilnahme an der Trauerfeier für Neonazi-Opfer habe sie aber positiv überrascht.
taz: Frau Selcuk, was halten Sie von Joachim Gauck?
Aylin Selcuk: Dass er der gemeinsame Kandidat der meisten Parteien ist, hat viele Menschen mit Migrationshintergrund nicht so erfreut. Er spaltet und grenzt aus, statt zu vereinen und zu versöhnen. In einem TV-Interview hat er 2010 im Zusammenhang mit Muslimen sogar von Überfremdung und Feindschaft gesprochen.
Woher kennen Sie das Zitat?
Die Sendung findet sich im Netz und wird derzeit viel gepostet, vor allem auf Facebook.
Gaucks Verteidiger meinen, solche Zitate würden von Kritikern aus dem Zusammenhang gerissen. Was sagen Sie dazu?
23, leitet die "DeuKische Generation", einen Verband türkischstämmiger Jugendlicher. Sie studiert Zahnmedizin.
Ich habe mir die Sendung angeschaut: Das Statement ist eindeutig. Aber zurzeit meinen es viele gut mit ihm. Das irritiert mich, denn mit Wulff ist man weit weniger behutsam umgegangen. In der Presse ist die Berichterstattung relativ einseitig - als wäre es ungehörig, Gauck zu kritisieren. Die meiste Kritik findet sich deshalb im Internet.
Grüne, SPD, FDP und Union haben sich auf Gauck geeinigt. Wofür steht der Konsenskandidat Ihrer Meinung nach?
In der Sendung "Standpunkte" äußerte Joachim Gauck am 10. 10. 2010 im TV-Kanal der Neuen Züricher Zeitung sein Verständnis für das "tiefe Unbehagen alteingesessener Europäer" gegenüber Muslimen.
Wörtlich sagte er: "Menschen in Europa, das sehen wir überall, nicht nur in Deutschland, sind allergisch, wenn sie das Gefühl haben, dass was auf dem Boden der europäischen Aufklärung und auch auf dem religiösen Boden Europas gewachsen ist, wenn das überfremdet wird, um einen Begriff zu verwenden, der in Deutschland verpönt ist, aber ich verwende ihn hier ganz bewusst."
Er ist sicher eine wichtige Person und hat wichtige Sachen gemacht. Aber während er in der DDR lebte, hat sich Westdeutschland stark verändert. Ich bin hier geboren und Teil dieses Landes, ich bin nicht "fremd". In dieser Hinsicht muss Gauck offener werden. Wir schreiben auch nicht mehr das Jahr 1989, sondern stehen heute vor neuen Herausforderungen.
Was meinen Sie damit?
Freiheit hat für ihn eine andere Bedeutung als für die heutige Generation. Wir können heute frei reisen und genießen die Freiheit im Internet: Das sind die Themen unserer Zeit. Ich möchte in Ruhe chatten, ohne das jemand mitliest. Und Freiheit ist für mich auch Religionsfreiheit und die Freiheit von Diskriminierung. Nicht nur Freiheit vom DDR-Regime.
Was stört Sie an Gaucks Haltung zu Muslimen?
Zu sagen, Muslime seien per se fremd, finde ich gefährlich - und sehr schlicht. Denn gläubige Muslime stehen Christen oft viel näher als etwa Atheisten.
Sehen Sie sich als Muslimin?
Religion ist für mich Privatsache. Und ich finde, man sollte Menschen nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit beurteilen.
Gauck hat an der Trauerfeier für die Neonazi-Opfer teilgenommen, obwohl er sie ursprünglich abgelehnt hatte, und das Gespräch mit Angehörigen der Opfer gesucht. Zeigt das nicht, dass er lernfähig ist?
Das hat mich positiv überrascht. Es zeigt, dass die Kritik bei ihm ankommt - und das ist auch wichtig. Denn mit Worten kann man viel bewirken. Das konnte man an der Rede des Vaters von einem der Mordopfer sehen, der beim Staatsakt am Donnerstag gesprochen hat: Es ist doch der größte Schmerz, sein eigenes Kind zu verlieren - und dann hat er sich als Erstes bei Wulff bedankt. Das sagt doch vieles und zeigt, wie wichtig dessen Reden waren - in einer Zeit, in der man rhetorisch durch Leute wie Seehofer und Sarrazin ständig ausgegrenzt wurde.
Was könnte Gauck tun, um das Vertrauen der Einwanderer zurückzugewinnen?
Das, was gesagt wurde, kann man schlecht zurücknehmen. Aber ich bin sehr gespannt auf seine erste Rede. Sie wird zeigen, welche Richtung er als Bundespräsident einschlagen wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren