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Gar nichtso schlecht

Meckern über das Rentensystem ist angesagt. Aber ist wirklich alles so dramatisch? Was Friedrich Merz von Konrad Adenauer lernen kann

August 1971: Eine Rentnergruppe in Dortmund demonstriert, weil ihre Rente durch die hohe Inflation weniger wert ist Foto: Klaus Rose/picture alliance

Von Stefan Reinecke

Erstens: Unsere Sozialsysteme stehen vor dem „finanziellen Kollaps.“ Zweitens: Die deutsche Rente ist zudem so kaputt, dass Jüngere am besten gar nicht mehr in dieses marode System einzahlen. Drittens: Ohne radikales Umsteuern werden die „Älteren die Jüngeren ausplündern“. Und viertens sieht Friedrich Merz drastisch steigende Beiträge für die Rente, die die Wirtschaft strangulieren werden. „Die Sozialversicherung insgesamt liegt auf der Intensivstation“, so Merz.

Das erste Zitat stammt aus dem Jahr 2000. Der Renten­experte Bernd Raffelhüschen prognostizierte damals den Exitus des gesamten deutschen Sozialstaats. Zweitens: Den Auszug der Jüngeren aus dem Rentensystem, das dem Untergang geweiht sei, forderte 1999 die CSU. Drittens: Die Ausplünderung der Jungen durch die Alten hielt Ex-Bundespräsident Roman Herzog vor 17 Jahren für unvermeidlich. Und im Jahr 2001 attestierte Merz dem Sozial­system die schlimmste Krise seit Jahrzehnten.

Apokalypse jetzt. Es gibt Hunderte solcher Zitate. Dass Sozialstaat und Rentensystem zusammenbrechen – und nur Aktien und Privatisierung uns vor dem Crash retten – ist der Evergreen neoliberaler Propaganda.

Doch mit diesen immer im Brustton der Überzeugung vorgetragenen Vorhersagen verhält es sich wie mit dem apokalyptischen Bewusstsein im 16. Jahrhundert. Damals glaubten alle fest daran, dass das Jüngste Gericht bevorsteht. Alle Jahre wieder tauchten Prediger auf, die den Weltuntergang datierten. Dass der dann regelmäßig ausblieb, erschütterte den Glauben an die Apokalypse keineswegs. So ähnlich verhält es sich mit den Untergangsprognosen für das Rentensystem. Ein Unterschied: Die Prediger galten im 16. Jahrhundert nach dem ausgefallenen Weltuntergang als Scharlatane. Die Auguren des Crashs des Sozialsystems sitzen noch immer in den Talkshows.

Es stimmt: Die Boomer gehen in Rente. Und es gibt weniger Jüngere, die arbeiten. Das setzt das System unter Stress, nicht für immer, aber für die 2030er Jahre. Der Verteilungskampf wird härter. Doch ein Kollaps des Rentensystems steht nicht vor der Tür. Der Rentenversicherungsbericht aus dem Arbeitsministerium prognostiziert, dass das System in den nächsten 15 Jahren stabil bleiben wird. Weitreichendere Vorhersagen sind sowieso unseriös: Wer weiß schon, wie viel Zuwanderung es 2040 gibt oder wie viele Frauen arbeiten werden? Es gibt verschiedene Stellschrauben, die im System bewegt werden könnten, um bis 2040 eine einigermaßen solide Rente zu gewährleisten. Der Steuerzuschuss oder die Beiträge können moderat steigen, das Rentenalter kann moderat erhöht werden. Oder alles drei.

Indes wirkt die Debatte um die Rente ziemlich deutsch: maximal miese Laune, obwohl die Lage gar nicht so übel ist. Sie passt auch in die dysto­pische Grundstimmung. Doch Deutschland hat ein solides Rentensystem. Es ist robuster als stärker kapitalgedeckte Systeme wie das in den USA, in denen jede Finanzkrise die Alterssicherung von Millionen pulverisieren kann.

Die derzeitige Debatte mag zudem den Eindruck erwecken, dass das hiesige Rentensystem von staatsfixierten Linken erfunden wurde. Nicht ganz. Das deutsche Rentensystem verdanken wir den überragenden Konservativen des 19. und 20. Jahrhunderts, Otto von Bismarck und Konrad Adenauer. Der CDU-Kanzler sah in der dynamischen Altersrente 1957 einen „sozialen Fortschritt allerersten Ranges“ und wahrscheinlich auch, wie Bismarck, ein Mittel, um revolutionäre Stimmungen zu dämpfen. Adenauers Konterpart war Ludwig Erhard, der das Copyright auf die neoliberale Nörgelei am Rentensystem hat. Diese Sozialpolitik, so Erhard grimmig, „zerstört die gute Ordnung“ und führt eine „staatliche Zwangsbürgerversorgung“ ein. Adenauer setzte die Rentenreform 1957 zusammen mit der SPD gegen Erhard durch.

Auch das war stilbildend. Seitdem ist die Rentenpolitik in der Bundesrepublik Konsenspolitik. Rentenreformen werden in Wahlkämpfen, wenn überhaupt, nur niedertourig thematisiert. Mag sein, dass die bundesrepublikanische Fixierung auf die Mitte immer etwas Ängstliches, auch Unpolitisches hatte. Aber Rentenpolitik ist ein verhetz­bares Thema voll emotional aufgeladener Bilder: Die Jüngeren, die bis aufs Blut ausgeplündert werden, die Alten, denen bittere Armut droht oder die das Geld der Jüngeren auf Mallorca verprassen.

Die Idee, Rentenpolitik in der politischen Mitte zu lösen, war nicht der schlechteste Teil der politischen Kultur der Bundesrepublik. Die Rente mit 67, eine einschneidende Änderung des Systems, setzte 50 Jahre nach Adenauer übrigens nicht die CDU, sondern der SPD-Mann Franz Müntefering durch. Wenn Schwarz-Rot jetzt keinen Rentenkompromiss zustande bekommt und an der Erpressung von einem Dutzend jungen Unionsabgeordneten scheitert, dann wäre das auch Zeichen eines bedenklichen Ausfransens dieser Konsenskultur.

Das deutsche Rentensystem verdanken wir den überragenden Konservativen des 19. und 20. Jahrhunderts, Otto von Bismarck und Konrad Adenauer

Was derzeit fehlt, ist politische Führung ohne Pessimismus, die ein paar Dinge gerade rückt. Neoliberale wie Veronika Grimm kritisieren, dass der Steuerzuschuss in die Rente immer weiter wächst – ein beliebtes Angstbild, das zeigen soll, wie unbrauchbar das Rentensystem als Versicherung ist. Doch schon bei Bismarck gab es einen solchen staatlichen Zuschuss, um das System am Laufen zu halten. Außerdem ist das Schreckbild der Rente, die immer mehr Steuern frisst, weil die Alten sie verpulvern, schlicht falsch. Jedenfalls wenn man nicht die absoluten Zahlen anschaut, sondern den prozentualen Anteil an den Staatseinnahmen. Der ist seit 30 Jahren mehr oder weniger gleich und schwankt bezogen auf das gesamte Steueraufkommen zwischen 10 und 13 Prozent. Es wäre erfreulich, wenn Merz sich offensiv als Erbe Adenauers outen würde, anstatt die immer gleichen neoliberalen Suggestionen vom baldigen Verfall zu bedienen. Höhere Steuerzuschüsse wären künftig gerechter als höhere Beiträge für Arbeitnehmer – denn Arbeit ist in Deutschland teuer genug.

Es gibt noch mehr Unwuchten, die die Rentenkommission korrigieren muss. Gerecht wäre, wenn mehr einzahlen. Beamte sollten ihr Pensionsprivileg verlieren. Das bringt nicht kurz-, aber langfristig etwas für die Rentenkasse. Die Junge Union ist erfreulicherweise offen für die Idee, Beamte in das Rentensystem einzubeziehen. Eine krasse Ungerechtigkeit ist zudem, dass das Rentensystem nicht Reichere benachteiligt, sondern Ärmere. Denn die sterben wesentlich früher als Wohlhabende. Deshalb ist die Rente für sie ein schlechteres Geschäft. Das ist bekannt, aber eine Änderung ist wie alles bei der Rente komplex. Denn Rente funktioniert auch wie eine Versicherung, in der Einzelne und nicht Gruppen Ansprüche erwerben.

Dass Ärmere im Vergleich zu Besserverdienern mehr einzahlen, als sie bekommen, ist ein Missstand, der die Akzeptanz des Rentensystems gefährdet. Warum dürfen Altenpfleger oder Erzieherinnen nicht früher in Rente gehen? Oder man verändert das System so, dass Ärmere mehr Rente bekommen als jetzt und Besserverdiener weniger? Eine Reform, die das schafft und vor dem Bundesverfassungsgericht besteht, ist den Schweiß der Edlen wert.

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