GESUNDHEIT FÜR PAPIERLOSE: Patienten dritter Klasse
Verbessert hat sich ein Jahr nach Einführung der "Humanitären Sprechstunde" die Gesundheitsversorgung der Menschen ohne Aufenthaltstitel - gut ist sie noch nicht.
Sie haben weder Geld noch eine Versicherung. Sie können nicht einfach zum Arzt gehen, wenn sie krank sind. Und wenn von der "Zwei-Klassen-Medizin" die Rede ist, sind sie noch nicht einmal mitgemeint: papierlose Flüchtlinge, offiziell "illegal aufhältige Migranten" genannt. In Bremen sind das mehrere tausend Menschen. Doch ihre gesundheitliche Versorgung in Bremen bleibt auch gut ein Jahr nach Einführung der "humanitären Sprechstunde" mangelhaft. Das ist das Ergebnis einer Senatsantwort auf eine informelle Anfrage der grünen Migrationspolitikerin Zahra Mohammazadeh.
Insgesamt wurden im ersten des auf drei Jahre angelegten Modellprojekts 116 PatientInnen beraten und 233 Behandlungen vermittelt. In die zweimal zweieinhalb Sprechstunden pro Woche kamen 80 Frauen und 36 Männer, die im Schnitt 29 Jahre alt waren. 25 PatientInnen waren minderjährig, 13 über 50.
Wie erwartet, kamen vor allem Schwangere in die Beratung. Vorsorge und Behandlung während der Schwangerschaft könnten jedoch im Rahmen dieser Sprechstunde "nicht ausreichend" gewährleistet werden, heißt es in dem Senatspapier, auch eine kostenlose Behandlung bei niedergelassenen GynäkologInnen sei nur "in begrenztem Rahmen" möglich.
Jedoch gibt es seit Oktober eine Kooperationsvereinbarung mit allen fünf Bremer Entbindungskliniken, die eine stationäre Geburt "für einen geringen Pauschalbetrag" ermöglicht. Zwar kooperieren mittlerweile über 40 ÄrztInnen mit der "Humanitären Sprechstunde". Vorwiegend sind es aber Frauen- und Kinderärzte, während es laut Sozialressort weiterhin "dringenden Bedarf" an NeurologInnen, ChirurgInnen, UrologInnen, OrthopädInnen sowie Augen- und Hals-, Nasen-, OhrenärztInnen gibt.
In einer Umfrage hatte 2008 immerhin rund die Hälfte der 143 teilnehmenden ÄrztInnen in Bremen angegeben, schon Erfahrungen mit Papierlosen zu haben. Dennoch kamen "vereinzelt" PatientInnen in die "Humanitäre Sprechstunde", die schon unter starker Karies litten, bei denen auch akute Schmerzbehandlung unterblieben war, oder deren Kinder auch nach mehreren Jahren noch kein Arzt untersucht hatte. Generell wird davon ausgegangen, dass vor allem chronische und dringend behandlungsbedürftige Erkrankungen bei Papierlosen oft nicht therapiert werden und deshalb schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben.
Defizite gibt es auch bei der psychologischen Beratung von Papierlosen: Zwar gibt es eine Kooperation mit Refugio, ein psychosoziales und therapeutisches Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folterüberlebende. Allerdings, so der Senat, sei der Verein "bereits überlastet" und könne nur "schwere Fälle" annehmen.
Die Akzeptanz des Projektes, für das bis Ende November rund 21.000 Euro aufgewandt wurden, wird vom Senat als "zufriedenstellend" eingeschätzt. Erst seit Oktober gibt es einen siebensprachigen Flyer, der das Angebot bewirbt, so dass das Projekt in erster Linie auf Mund-zu-Mund-Propaganda angewiesen war. In Bremerhaven ist ein vergleichbares Projekt derzeit noch in Planung.
Mohammazadeh sieht in der "Humanitären Sprechstunde" ein "gutes und zielgruppenorientiertes" Projekt, dass noch "viel Potenzial" berge - aber "keine grundsätzliche Lösung des Problems" sein könne. Sie möchte "mehr Druck auf die Bundesregierung ausüben", will ansonsten jedoch zunächst das Ende des Modellversuchs 2012 abwarten. Und erst dann einen neuen Anlauf nehmen, "dicke Bretter zu bohren": Einen "anonymen Krankenschein", wie ihn auch Ärzteverbände fordern, wird es also vorerst nicht geben. Mit ihm könnten Papierlose zum Arzt gehen, ohne gleich Gefahr zu laufen, abgeschoben zu werden.
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