Fußballnation Österreich: Piefke der Herzen
Ralf Rangnick erreicht als Trainer nicht nur das Team, sondern das ganze Land. Er hat Österreich den Glauben an den eigenen Fußball zurückgegeben.
Nach dem 3:1 gegen Polen folgte ein 3:2 gegen die Niederlande. Im Achtelfinale wartet am Dienstag (21 Uhr) die Türkei. In Österreich wird bereits vom Europameistertitel geträumt. Ralf Rangnick, einst als verbissener, spröder Fußball-Professor bekannt, beschert dem Land ein Sommermärchen. Das erste – ja, seit wann eigentlich?
Österreich und Fußball – das war lange eine Leidensbeziehung. Der letzte große Erfolg liegt fast fünfzig Jahre zurück; das 3:2 gegen Deutschland bei der WM 1978 im argentinischen Córdoba. Die geschundene Fußballseele hat seither viel erlebt: 1999 das 0:9 gegen Spanien. Oder 2021 ein 2:5 gegen Israel. Im Land dachte man: Skifahren, das können wir, aber Fußball, das ist halt nicht unser Sport.
Österreich war bekannt für zerstrittene Funktionäre, müden Fußball und scherzende Trainer. Vor der EM 2008 meinte der damalige Teamchef Josef Hickersberger: „Wir haben nur unsere Stärken trainiert, darum war die Einheit nach 15 Minuten vorbei.“
Im Österreichischen Fußballbund, ÖFB, wurden Trainer von ehrenamtlichen Provinzfunktionären ausgesucht. Oft lief das so ab: Der Tiroler stimmte für den Tiroler, der Wiener für den Wiener. Die viereinhalb Jahre vor Rangnick coachte der Deutsche Franco Foda das Team in die Misere. Foda wollte verteidigen, die Spieler angreifen.
Maschinenraum des Angriffsfußballs
Dabei stammt Österreichs Mittelfeldachse aus dem Red-Bull-Kosmos, dem Maschinenraum mutigen Angriffsfußballs: darunter die Ex-Leipziger Marcel Sabitzer und Konrad Laimer sowie Nicolas Seiwald und Christoph Baumgartner. Bei der Nationalmannschaft sei es eben „nicht wie im Verein“, hielt ÖFB-Sportdirektor Peter Schöttel fest.
„Man hat ganz wenig Zeit, um zu trainieren.“ Ein offensiver Pressing-Stil sei deshalb nicht umsetzbar. „Wir haben nicht die Zeit, um Abläufe exakt hinzubekommen.“ Im ÖFB versuchte man lange zu erklären, weshalb etwas nicht klappt – anstatt das Naheliegende einfach zu versuchen.
Bei Rangnick wurde halbherzig und auf öffentlichen Druck hin angefragt. Schöttel war sich im Grunde mit seinem Spezi Peter Stöger einig, der aber ebenso zur Vorsicht neigt. Dann funkte Rangnick dazwischen, sagte zu und verzichtete auf ein üppiges Gehalt. Seine Hoffnung: mit dieser Truppe Rangnick-Fußball spielen zu können.
Verstummte Kritiker
Der Plan ging auf. Österreich spielt nun mutig, angriffig – und hält mit den Großen mit. Italien, Kroatien und Deutschland wurden besiegt. Anfangs hätten einige Experten lieber einen echten Österreicher als Teamchef gesehen. Rangnick sei „kein Trainer“, bemängelte Córdoba-Held Hans Krankl. Nach dem 3:2 gegen Deutschland vergangenen November adelte die anfangs kritische Kronenzeitung Rangnick als „Lieblings-Piefke“.
Die Kritiker sind verstummt. Und auch Rangnick fühlt sich wohl. Er hat ein Penthouse im Salzburger Umland gekauft. Dort sprach ihn zuletzt ein älteres Ehepaar an. Sie mögen Fußball nicht, verrieten sie ihm, doch seit er hier ist, verfolgen sie jede Partie. Rangnick kümmert sich um peppigeren Stadionsound, geeignete Spielstätten, den Nachwuchs.
Zuletzt sprach er sich in der Nachrichtensendung ZIB2 gegen den Rechtsextremismus im Land aus. Rangnick ist nicht bloß Entwicklungshelfer, sondern auch eine Art gutes Gewissen im Land. Einst hat er Red Bull Salzburg zum Topklub geformt, wovon der österreichische Fußball bis heute zehrt.
Nun hilft er dem verschlafenen ÖFB. Bei der Euro will Rangnick mit Österreich „die beste Mannschaft“ sein. Vorgänger Foda gab bei der EM 2021 bloß einen Sieg als Ziel aus. Nun scheint alles möglich. Rangnick hatte in seiner Karriere meistens Erfolg, aber geliebt wurde er nie.
Nun erreicht sein unbändiger Ehrgeiz auf einmal Herzen. Auch Rangnicks Absage an den FC Bayern, wo er das Zehnfache hätte verdienen können, wurde in Österreich als Liebesschwur gewertet. Der Tenor im Land: Ein Piefke, der sich gegen Piefkes entscheidet, das muss ein halber Österreicher sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül