piwik no script img

Fußball in der TürkeiAuch ein System kann eine Verletzung erleiden

Die politische Lage in der Türkei färbt auf den Sport ab. Weder Teams noch Fans können im türkischen Fußball noch an faire Spiele glauben.

Nicht nur Fans von Galatasaray glauben, dass es im türkischen Fußball nicht mit rechten Dingen zugeht Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

E s ist der letzte Tag des Ramadan in Istanbul. Gerade aus dem Flugzeug gestiegen, mache ich mich auf den Weg nach Beşiktaş zum Istanbuler Derby gegen Galatasaray. Die Straßen sind überfüllt mit jubelnden Fans. Wer es sich leisten kann, sitzt in vollgepackten Restaurants, trinkt Rakı und isst Fisch. Die anderen versammeln sich im Dichterpark um die Ecke. Hupen, Trommeln, Fackeln, Feuerwerk und Rauch. Leere Bierflaschen bedecken die Füße der Statuen berühmter Poeten. In einer Seitenstraße versucht ein Jugendlicher, auf dem Hinterrad seines Motorrads zu fahren, um die Menge zu beeindrucken, und fällt stattdessen auf den Rücken.

Wild mit Händen gestikulierend beschimpfen betrunkene Männer die Mütter des ungeschlagenen Tabellenführers und Meisters der letzten beiden Jahre: Galatasaray. Beşiktaş, der Verein, den ich unterstütze, hat zwar keine Chance mehr auf die Meisterschaft, doch für eine andere Mannschaft ist dieses Spiel extrem entscheidend: Fenerbahçe.

Das Team auf der anderen Seite des Bosporus befindet sich im Titelrennen mit Galatasaray. Gala wirft deshalb den anderen beiden Mannschaften vor, einen Pakt gegen sie zu schmieden, der als „Bruderschaft der Vögel“ bezeichnet wird, eine Anspielung auf die Symbole der Vereine, den Kanarienvogel und den Adler. Nicht nur diese Verschwörung hat die Süperlig infiziert. Denn der türkische Fußball ist krank.

Das Misstrauen gegenüber der Türkischen Fußball Föderation ist in den letzten Jahren gewachsen. Fast alle Mannschaften, deren Fans, aber auch Trainer wie José Mourinho von Fenerbahçe, glauben, dass die Schiedsrichter korrupt und Spiele schon im Vorhinein entschieden sind. So sieht es in einem Land aus, in dem niemand mehr an Recht und Gerechtigkeit glaubt.

Theorien zu Protesten

Vor zwei Wochen hat die Regierung Erdoğan den Hauptkonkurrenten des Präsidenten, den Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, illegal verhaftet. Seitdem gibt es täglich landesweite Proteste. Eine Theorie besagt, dass der Schiedsrichter des heutigen Spiels falsche Entscheidungen treffen wird, um Beşiktaş zum Sieg zu verhelfen.

Denn das würde das Titelrennen wieder spannend machen und die Aufmerksamkeit von den Protesten zurück auf den Fußball lenken. Wenn alle Teams gegeneinander kämpfen, bleibt kaum Zeit für Politik. Meine Freunde, Gala-Fans, drängen mich, nach Beyoğlu zu fahren: Galatasaray-Gebiet. Der Taxifahrer unterwegs, ebenfalls Anhänger des Tabellenführers, glaubt schon, dass der Schiedsrichter „das Spiel kaputt machen wird“. Auf der belebten Straße versuchen Kellner, mich und meine Freunde in ihr Restaurant zu locken. Wir setzen uns. Der Fernseher läuft. Ich überhöre, wie sich ein Tischnachbar sorgt, dass der Schiedsrichter zu unerfahren sei. Anpfiff.

„Du Metzger, du Gauner!“

Beşiktaş erzielt in der 23. Minute ein frühes Tor. Die Gala-Fans im Restaurant wüten. In der 33. Minute werden ihre Befürchtungen wahr: Der rechte Verteidiger, Frankowski, tritt einem Beşiktaş-Spieler von hinten, als dieser kurz vor dem Strafraum den Ball erobern will. Der Schiedsrichter gibt Gelb.

Der VAR-Assistent ruft den Schiedsrichter und die Entscheidung wird auf Rot geändert. Vielleicht eine harte Entscheidung, die für Empörung sorgt. „Du Metzger, du Gauner!“, ruft ein Kind weinend dem Schiedsrichter zu. Galatasaray spielt zu zehnt und verliert 1:2. Anderswo jubeln vielleicht die Fans von Fenerbahçe, die so sicher waren, dass Regierung und Fußballverband alles tun würden, um sie um den Meistertitel zu bringen.

Der Rückstand auf Galatasaray beträgt wahrscheinlich nur noch drei Punkte. Am Mittwoch treffen die beiden Mannschaften im türkischen Pokal in Fenerbahçe aufeinander. Eines ist sicher: Gerechtigkeit wird es nicht geben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!