Fußball-EM der Einsamkeit: Kellerkind vor Bildschirm

Bei Großturnieren können Jour­na­lis­t:in­nen zu Eremiten werden. Und zwar solche zwischen Plastikschalen mit Essensresten und verstreuten Klamotten.

Fast-Food-Müll auf einem Papierkorb

Fußball und Ernährung: Für die Zuschauenden soll es möglichst schnell gehen Foto: Michael Gstettenbauer/imago

Gestern habe ich mich kurz aus meiner Routine bewegt. Ich bin in einen anderen Imbiss gegangen als sonst. Nach reiflicher Überlegung, ob es die zehn Minuten Fußweg wirklich wert sind, habe ich Neuland betreten. Dort habe ich dann leider erfahren, dass der Laden erst um 17 Uhr aufmacht. Zur Anstoßzeit. Zu blöd.

Mein EM-Leben in Brentford ist die Hochleistungsform des Murmeltiertags, eingerahmt von gleichen Aufstehzeiten morgens und gleichen Anstoßzeiten abends. Zwischen der Arbeit gehe ich ins Kebab-Haus gegenüber wie immer, das Menü kenne ich schon auswendig. Davor gehe ich einkaufen, in denselben Supermarkt wie immer, vier Minuten zu Fuß entfernt. Was ich dort kaufe, meist dasselbe wie immer, lässt sich sofort essen, kochen dauert mir hier entschieden zu lange.

Wie Sport­jour­na­lis­t:in­nen bei Turnieren leben? Ich schätze, wie Gamer. Eremiten vor dem Bildschirm, in einem Zimmer hinter zugezogenen Vorhängen, klickend von 7 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts, zwischen leeren Cornflakes-Packungen, Plastikschalen mit Essensresten und verstreuten Klamottenhaufen. Zumindest ich und hier in Brentford.

Ich weiß nun persönlich, dass die meisten Game­r:in­nen doch etwas mehr Tageslicht sehen, also ist es vielleicht umgekehrt, einige Game­r:in­nen leben wie Sportjournalist:innen. An manchen Tagen überlege ich sehr ernsthaft, ob das Schoko-Muffin und die Chipstüte, die es kostenlos bei der Uefa gibt, mir ersparen, ein Abendessen schnippeln zu müssen. Oft ist das Resultat positiv.

Und ja, die Uefa ist eine Sportorganisation, auch wenn man das der Verpflegung nicht anmerkt. Diese Kellerkind-Attitüde ist mir an mir selbst neu. In Aserbaidschan, Nordmazedonien, Nizza, eigentlich überall rannte ich zwischen der Arbeit in die Welt. Alles war voll von Begegnungen, Einladungen und Fremde, Aufregung, Adrenalin. Aber das hier ist halt ein Vorort von London, hier sieht es nicht anders aus als in Berlin-Tempelhof. Jedenfalls ähnlich. Die Airbnbs, selbst die billigsten, vermieten in England die Reichen. Die schließen die Tür auf, zeigen die Küche und sind dann wieder weg.

Meine einzige Interaktion mit den Einheimischen besteht darin, den ganzen Tag der lokalen Kita zu lauschen. „Kein Sonnenhut, kein Garten, Ryan!“ So sieht’s aus. Ohne Maske kein Stadion, das gehört derweil der Vergangenheit an. Wurde beim letzten Turnier noch streng auf Corona getestet und kontrolliert, muss jetzt nur noch bei der Pressekonferenz Maske getragen werden. Wo keine Pflicht herrscht, tut’s keiner, da sind wir seit Ryan nicht viel weitergekommen. Ein Gutes hatten die Tests, oft lief man durch die halbe Stadt, lernte abgelegene Winkel kennen.

In Brentford gibt’s also auch kein Corona-Test-Sightseeing. Vielleicht muss ich doch mal in diesen anderen Imbiss gehen. Eines Tages. Aber vielleicht auch nicht, ich fahre schließlich Samstag schon nach Milton Keynes. Das ist ja wohl Bewegung genug.

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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