Fundevogel ist weg

■ Schluß mit der Nebelkrähe, die eine Taube war

Herr Wunderling ist siebzig, hat einen großen weißen Bart, ist ein wenig wie sein Name und hat unwahrscheinlich viel Ahnung von Vögeln. Er ist Mitglied beim Deutschen Bund für Vogelschutz und wahrscheinlich Ehrenvogel. Auch seine Frau ist siebzig und Vogelfachfrau. Beide wohnen in einer Wohnung, in der die Wände mit Regalen voller Vogelbüchern vollstehen. Wo noch ein Fleckchen frei ist, da hängen überall Vogelbilder, aber alles wirklich edle Tiere, wie Geier, Strauße und Condome.

Als ich die Wohnung betrete, mit Fundevogel in der Pappkiste, sagt seine Frau nur: „Ach, eine ganz normale Haustaube, das höre ich sofort.“ Herr Wunderling hört die hohen Töne nicht mehr so gut, sonst hätte er das auch sofort gesagt, sagt er. Gut genährt, sagt er. Ich nicke; das viele gute Rinderhack. Aber nun sei Schluß mit der Mästerei für eine Taube, die eine aus dem Nest gefallene Nebelkrähe sein sollte, und deswegen sei ich da. Denn die entlarvte Taube will ich nicht mehr länger aufziehen.

Gestern abend war ich noch versucht, Fundevogel im Mülleimer zu lassen, wohin ihn ein Flugversuch unfreiwillig geführt hatte: er landete auf dem Schwingdeckel, der Deckel gab nach, Fundevogel plumste in den Eimer, Schwingdeckel schwang wieder zurück, Fundevogel gefangen. Aber dann brachte ich's doch nichts übers Herz, ihn drin zu lassen. Deswegen der Besuch beim Ehepaar Wunderling. Der wird ihn jetzt auf den Weg in die Freiheit geleiten. Dann wird die fliegende Ratte alles vollscheißen. Ich hoffe nur, es trifft nicht mich.

Nachtrag (und ein fast Happyend): Herr Wunderling ruft nach Fertigstellung des obigen Beitrags an. Er habe die Taube gebadet und nach ausführlicher Reinigung festgestellt, daß es sich um eine fast flügge Ringeltaube handelt und nicht um eine gewöhnliche Haustaube, die eine verwilderte Felsentaube sei. Die Ringeltaube sei die größte Wildtaube Europas, viel größer als die ekligen Haustauben, weiß Herr Wunderling. Nur eine Minderheit von denen überwintere in Berlin, die meisten zögen in wärmere Gegenden. Da bin ich doch froh. Und die Wahrscheinlichkeit, daß die Taube mir in Zukunft mal auf den Kopf kackt, ist damit auch geringer geworden.

gn