Fundbüro Facebook: 50.650 Klicks für eine Kamera
Ein Niederländer findet eine Nikon am Bahnhof. Er sucht im Netz nach dem Besitzer. Und die Crowd liefert – nicht nur den möglichen Besitzer, sondern auch noch kostenlose Werbung.
BERLIN taz | Ein kleiner Beitrag in sozialen Netzwerken kann manchmal Wunder bewirken – und vielleicht sogar Tränen verhindern. Mit einem recht ungewöhnlichen Post rief am Montag der Niederländer Roland van Gogh die Facebookgemeinde auf, ein ganz gewöhnliches Urlaubsbild möglichst oft zu teilen und zu verbreiten. Das Bild zeigt, so sagt es Gogh, einen Urlauber samt Reisebegleitung auf einer Radtour durch die Grachten Amsterdams. Darunter schrieb van Gogh: „Dieser Mann hat seine Kamera mit mehr als 2.800 Fotos in Amsterdam verloren. Wer kennt ihn? Bitte kontaktieren!“ Und den Appell, das Bild zu verbreiten.
Dies geschah der automatischen Facebook-Anzeige zufolge innerhalb von 24 Stunden 50.650 Mal – dann war der Besitzer der Kamera gefunden. Es soll ein Kanadier sein, der eine Europatour macht – das sagte zumindest eine Frau, die sich als die Schwester des abgebildeten Mannes ausgibt. Sie beschrieb den Kamera-Findern offenbar Reiserouten-Punkte, die auch auf den Bildern auf der Kamera zu sehen sind.
Damit rettet die Schwarmintelligenz womöglich nicht nur wertvolle Urlaubserinnerungen des Besitzers der Kamera, sondern verhilft Finder van Gogh auch zu einem Wettsieg über seinen Vater. Denn der wollte über den herkömmlichen Weg einer Fundmeldung bei der Amsterdamer Polizei das Kamera-Rätsel lösen – doch der Sohn war via Facebook schneller.
Die Idee, die Masse der Nutzer zu befragen, lag für van Gogh auf der Hand: Als Unternehmensberater in Internet- und Softwarefragen entwickelt er auch beruflich Social Media-Auftritte für Firmen. „Ich kenne die Kraft von Facebook“, sagt der 31-Jährige. Doch dass er so schnell so viele Menschen erreichen würde, habe er nicht erwartet.
Doch die Schwarmintelligenz hat nicht nur charmante Seiten, sondern kann auch den berühmten Shitstorm loslösen. So geschehen auf der Plattform Reddit Pics, wo van Gogh das Bild des mutmaßlichen Kamerabesitzers ebenfalls teilte. Dort lassen sich Nutzer sowohl über die abgebildeten Personen als auch über van Gogh aus.
NutzerIn Kaissy schreibt etwa: „Omg das ist Horror, er hat 2.800 Bilder in seiner Gewalt, das heißt, wenn er nur drei Bilder löscht, muss der Besitzer 2797 Bilder durchstöbern, bis er sieht, was fehlt! Du Monster.“ Andere fordern wiederum, die Bilder zumindest aus dem Web zu löschen: „Da sind Verwandte von mir drauf“, behauptet Farther Oblivion. RedditvTidder droht: „Ich weiß nicht, wer du bist und was du willst. ich habe kein Geld. Aber ich habe einige Fähigkeiten, die ich mir über lange Zeit angeeignet habe. Fähigkeiten, die ein Albtraum für Menschen wie dich werden können. Wenn du meine Kamera nicht gehen lässt, werde ich dich umbringen.“
NutzerIn Zosimas wundert sich: „Woher weißt du, dass es seine Kamera ist und nicht ihre, du sexistisches Schwein?“ Featureless dagegen sieht sich das Bild genauer an und schreibt: „Bin ich der einzige, der es verrückt findet, dass er Sommer-Klamotten trägt, während sie Wintersachen anhat?“ Worauf Zulubowie antwortet: „Die Leute rufen ihn ‚ginger balls‘. Und zwar, weil sie ihn gar nicht richtig sehen, sie sehen nur Ginger und Balls.“ Und Alfbort findet: „Er sieht irisch aus, blasse, weißliche Haut und rote Haare.“
Damit habe er nicht gerechnet, sagt der studierte Wirtschaftsinformatiker van Gogh. Er und sein Vater hätten auch etliche Mails von Leuten erhalten, die die Aktion missbrauchen wollten. „Ich glaube dennoch, dass es der richtige Weg war“, sagt van Gogh. Sie hätten darauf geachtet, dass auch jetzt, da der Kontakt zur mutmaßlichen Schwester des Kamerabesitzer besteht, keine Daten über die Personen nach außen dringen.
Ein paar nützliche Tipps – und Fakes
Immerhin gibt es auf den Portalen auch ein paar Tipps, wo man wirklich Hilfe findet, wenn die Urlaubskamera mal weg ist. So tragen die Nutzer ihr Wissen über Seiten wie I found your camera und Camera found zusammen, wo wiederum Kamerafinder und Suchende zueinander finden sollen. Das passiert dort freilich etwas organisierter als im Strudel der Mitgliedergemeinde auf Facebook und Reddit Pics.
Was es mit dem Posting van Goghs wirklich auf sich hat, ist nicht nachvollziehbar, auch wenn es bisher keine Hinweise darauf gibt, dass er die Geschichte erfunden hat. In der Vergangenheit gab es schon mehrfach Facebook-Enten, bei denen Nutzer dazu aufgerufen wurden, Inhalte zu teilen. Deshalb hat es sich das Kollektiv Mimikama zur Aufgabe gemacht, auf sie hinzuweisen und sie auseinander zu nehmen.
Die Dokumentation des nach eigenen Angaben aus Facebook-Nutzern bestehenden Netzwerks zeigt, dass Bilderaktionen sich wunderbar eignen, die Crowd zu mobilisieren – für nicht immer gleich ersichtliche Zwecke: Ein Bild eines Kleinkindes wurde so etwa Anfang des Jahres mit dem Hinweis gepostet, Facebook bezahle selbst einen US-Dollar pro Teilung für eine angeblich notwendige Herzoperation des Kindes. Mimika warnt: „Faceboook zahlt nicht für geteilte Beiträge und Bilder. Sollte dies doch jemals der Fall sein, würde Facebook das sicherlich selbst verbreiten.“
Beim aktuellen Posting van Goghs bestehen wohl keine so problematischen Verwicklungen. Doch die Crowd hat nun in jedem Fall auch wahrgenommen, bei welcher Unternehmensberatung van Gogh arbeitet. Dieser Mitnahmeeffekt ist dem Niederländer sicher und er wird seine neuen Erfahrungen für seine künftige Arbeit nutzen:“Ich werde das Beispiel auch als Beleg für das gewaltige Mobilisierungspotenzial sozialer Medien einbinden, wenn ich mit Kunden verhandle.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt