Fünf Wähler berichten: Warum Westerwelle?

Nicht nur reiche Zahnärzte aus dem Westen wählen die Freidemokraten - auch Arbeitslose, Ostberliner und Bafög-Empfänger. Fünf Porträts von fünf ungewöhnlichen FDP-Ankreuzern.

Wer hat Westerwelle den Weg ins Auswärtige Amt geebnet? Bild: Markus Schreiber/AP

Der Verzweiflungstäter: Michael steht auf einer Brücke. Wie gestern, wie vorgestern, wie schon seit vielen Wochen. Früher stand er am Hochofen einer Härterei - heute ist Michael arbeitslos. Entlassen. Mit 26 Jahren. Betriebliche Gründe. Aus der Wirtschafts- wurde seine persönliche Krise. Nun denkt er an Suizid. Selbstmord - aus Scham vor der Familie. Eine halbe Stelle hat er abgelehnt. "Keine tausend Euro brutto. Zu wenig zum Leben." Zu Hause weiß niemand davon. Jeden Morgen macht er sich auf den Weg zur Arbeit. Zur Brücke. Immer wieder der Wunsch, dass es vorbei ist. Wieder der Gedanke an seinen Sohn. Dann weg von der Brücke in die Stadt. Acht Stunden, ein Arbeitstag. Dann las er an einer Plakatwand das Schild. "Mehr Netto vom Brutto." Michael, Sohn einer Arbeiterfamilie, beschließt, bei den Liberalen sein Kreuz zu machen. "Es war ein Wendepunkt für mich." Arbeit, wirtschaftlicher Aufschwung und Ehrlichkeit. FDP. "Warum sollten die es nicht schaffen?" Seine Frau hat er inzwischen aufgeklärt, jobbt auf dem Bau und hofft, dass es bald passiert: Dass ein wenig mehr Netto vom Brutto bleibt.

Die Pflichtwählerin: Silvana hatte damals keine Lust, die 12. Klasse zu wiederholen, und machte eine Ausbildung zum Make-up Artist. Sie wuchs bei ihrer Mutter auf, die immer die SPD wählte. Heute, mit 24, lebt sie mit ihrem Mann (35) in Charlottenburg in Berlin. Er hat keinen deutschen Pass. Dass die FDP Einbürgerungen erleichtern will, wusste sie gar nicht. Auch die anderen Programmpunkte kannte sie nicht. Am liebsten hätte sie sowieso niemanden gewählt. Aber sie sah es als ihre Pflicht an - als deutsche Bürgerin mit Wahlberechtigung. Und dann war da noch ihr Vater, der ihr als überzeugter FDPler seine Gründe aufgezählt hat, warum er diese Partei auch dieses Mal wählen würde. Ohnehin konnte sie sich mit dieser Partei am besten arrangieren. Außerdem hat ihr Merkel immer besser gefallen als Steinmeier. Mit dem Wahlergebnis ist Silvana zufrieden. Sie traut der schwarz-gelben Regierung zu, den Weg aus der Krise zu finden. Bei vergangenen Wahlen hat sie ihr Kreuzchen auch schon mal bei CDU gemacht. Jetzt setzt sie auf die "Wirtschaftsexperten" der FDP. Und dabei soll es bleiben.

Der Unparteiische: Demo-Plakate an den Wänden, Kunstausstellungen im Hinterzimmer und jeden Tag eine warme Mahlzeit: Projektraum Rigaer 105. Wer Geld hat, spendet; wer keins hat, isst umsonst. Wer Hilfe braucht, bekommt sie, wer helfen möchte, hilft. Auch Florian fühlt sich hier zu Hause, er packt mit an, freiwillig und unentgeltlich. Dabei passt der 29-jährige selbständige Betriebswirt gar nicht in diese bunte (Lebens)künstler-WG. Keine langen Haare, keine Piercings und schon gar nicht Rot-Rot. Florian hat FDP gewählt. Und er steht dazu. Weniger festgefahrene Ideologien und mehr Realitätssinn, weniger geheuchelten Sozialstaat und mehr echte Solidarität, das war Florian wichtig. Dass er dabei in seinem Umfeld aus der Reihe tanzt, findet er nicht schlimm. Er besteht darauf: "Pluralität und Austausch sind Grundpfeiler der Demokratie." Ob er wieder FDP wählen würde? Das käme mehr auf das Programm an als auf die Partei.

Der Wiederholungstäter: Nils, 25, stammt aus Brandenburg. Er bekommt Bafög, studiert Biochemie und ist FDP-Mitglied in der vierten Generation. Auch dieses Jahr hat er natürlich wieder FDP gewählt. Zwar hat er das Wahlprogramm nicht gelesen, aber er verlässt sich darauf, dass die Liberalen das Vater-Staat-Prinzip bekämpfen werden. Wie sie das genau tun? Das weiß er nicht, auf Bundesebene ist er nicht sehr bewandert. Die CDU sieht er als "notwendiges Übel". Daher erhofft er sich nicht allzu viel von dem Regierungswechsel. "Demokratie ist immer ein Kompromiss." Außerdem ist die Finanzkrise das Topthema. Da bleibt keine Zeit für anderes. Bezüglich Finanzkrise hat er nicht den vollen Durchblick, traut diesen aber auch den Medien nicht zu: Alles auf die "Deregulierung" schieben ist ihm zu einfach. Er wünscht sich sogar genau das von den Liberalen: Noch mehr "weniger Staat". Er würde es wieder tun - FDP wählen.

Das Wahlkampfopfer: Paul, 21, ist Ostberliner. Nach seinem Realschulabschluss 2004 brach er zwei Ausbildungen ab und hält sich seitdem mit Aushilfsjobs über Wasser. Für das Zimmer in der Wohnung seiner Mutter bezahlt er monatlich 200 Euro. In eine Familie mit linker Tradition hineingeboren, stand es für ihn immer außer Frage, bei seiner ersten Bundestagswahl im Jahr 2009 Die Linke zu wählen. Dann begann der Wahlkampf. Halina Wawzyniak, Kandidatin seines Wahlkreises Friedrichshain-Kreuzberg, präsentierte auf den Wahlplakaten ihren Arsch. Vorsitzender Gregor Gysi lockte mit "Reichtum für alle". "Platte Parolen und Aktionen à la Sex sells waren mir einfach zu wenig", sagt Paul. Es hat ihm an greifbaren Vorschlägen zur Verbesserung seiner Lebensumstände gefehlt. Konnte er früher noch wunderbar von Idealismus und dem Taschengeld seiner Eltern leben, denkt er heute nur noch von Mahlzeit zu Mahlzeit. Da entdeckte er die gelb-blauen Plakate. Sie versprachen Steuersenkungen und "mehr Netto vom Brutto". Paul gab seine Stimme der FDP. Vor einigen Tagen stellte Guido Westerwelle im Zuge der Koalitionsverhandlungen klar: "Das Wahlprogramm der FDP ist Verhandlungssache." Für Paul ist seine Zukunft keine Verhandlungssache. Jetzt hat er Angst.

Diese Porträts stammen von Matthias Clever, Luis „Lucry“ Cruz, Alexander Friedmann, Paula Kimmich und Bastian Spangenberg. Die fünf sind Teilnehmer der 3. taz-Akademie für Nachwuchsjournalisten.

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