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■ Fünf Jahre nach der Fusion mit Bündnis 90 sind die Grünen wieder eine Westpartei, doch sie stehen nicht nur im Osten vorm NeuanfangDer Wendebonus ist aufgebraucht

„Entstanden ist die erste und einzige authentische gesamtdeutsche Partei“ – so resümierten wir vor genau fünf Jahren im Gründungsbeschluß die Vereinigung von Bündnis 90 (Ost) und Grünen (West). Die Tatsachen sprechen inzwischen eine andere Sprache: Die Strukturen im Osten sind schwach, die Wahlergebnisse mager, das Personal der DDR-Bürgerbewegungen hat sich, soweit überhaupt noch parteipolitisch aktiv, auf alle demokratischen Parteien verteilt. In den Landtagen ist die Partei überall im Westen, aber nirgendwo im Osten präsent. Vier von 48 Bundestagsabgeordneten sind Ostdeutsche – das entspricht dem Mitgliederverhältnis in der Gesamtpartei. Gleichberechtigung ist nicht das gleiche wie Gleichgewicht. Worum es ging, war etwas anderes: die Partnerschaft zweier verwandter, obschon ungleicher politischer Gruppen aus zwei verwandten, aber ebenso ungleichen Staaten. Zwei politische Kulturen trafen aufeinander und mußten sich auseinandersetzen. Die Grünen waren dafür offener als zuvor, denn sie mußten Konsequenzen aus der Strömungssackgasse und ihrem Scheitern 1990 ziehen. Das Bündnis 90 steckte – weil der DDR-Bürgerbewegung die DDR abhanden gekommen war – in einer Identitätskrise und brauchte die Verbindung mit den Grünen für ihr politisches Überleben. Das Bündnis 90 ging ungleich schwächer als die Grünen in diese Fusion, es war weder Koch noch Kellner, sondern eher eine nahrhafte Suppe, die die Grünen auszulöffeln hatten.

Der dritte Partner in der grünen Konstruktion, die Grüne Partei der DDR, unterschied sich vom Bündnis 90 vor allem dadurch, daß ihre Mitglieder in der Regel politisch jünger waren und deshalb weniger eigene politische Identität entwickelt hatten als die Bürgerbewegten. Deshalb war ihre Integration in die Grünen von beiden Seiten viel einfacher. Die Ost-Grünen wirkten von Anfang an eher wie eine Wiederholung der Grünen mit zehnjähriger Verzögerung, während die politische Sozialisation der Bürgerbewegten in der Auseinandersetzung mit dem politischen System der DDR erfolgt war. Dieser Unterschied wirkt bis heute nach, vor allem im Bereich politischer Loyalitäten. Wer in den östlichen Landesverbänden die ehemalige Bürgerbewegung der DDR sucht, kann lange suchen. Das Bündnis 90 war nicht nur anders als die Grünen, es war auch nicht repräsentativ für die DDR. Die Bürgerbewegung im Osten wurde überschätzt – und tat das im übrigen oft selber genug. Aber auch diese optische Täuschung ist zu erklären: Der Herbst 1989 war eine historisch einmalige Situation. Weder vorher noch nachher konnten diejenigen, die später das Bündnis 90 bildeten, für sich in Anspruch nehmen, so etwas wie das Sprachrohr einer Mehrheit der DDR-Bevölkerung zu sein.

Daß die Bündnisgrünen im Osten so schwach sind, liegt aber nicht nur an der Schwäche der Bürgerbewegten, an der Unreife der Ost- und der Ignoranz der West- Grünen: Die Grünen entstanden als Reaktion auf die Unfähigkeit des modernen Kapitalismus, die Grenzen des Wachstums zu erkennen. Sie vertreten postmaterielle Werte in einer postindustriellen Wohlstandsgesellschaft. Nichts davon trifft auf Ostdeutschland zu.

Zwischen den ökonomischen, soziologischen und kulturellen Entwicklungsstadien West- und Ostdeutschlands besteht ein Abstand von historischer Dimension. Die jetzige Krise der Bundesrepublik ist die schwerste seit ihrem Bestehen und nur auf den ersten Blick in Ost und West dieselbe. In Wahrheit handelt es sich um zwei völlig unterschiedliche Krisen.

Natürlich sind die Bündnisgrünen als junge und moderne Partei davon besonders betroffen, im Osten mehr noch als im Westen. Nach dem Ausnahmezustand 1989 und 1990 ist dort jetzt der graue Alltag eines Landes eingekehrt, das den Westen nachholen muß – und will –, zu einer Zeit, wo dessen Verhältnisse sich bereits als überholt erwiesen haben. Das soziokulturelle Milieu, das im Westen nicht nur nach dem Wirtschaftswunder, sondern vor allem aus dem 68er Aufbruch entstanden ist, fehlt nahezu völlig.

Weder der Osten als Ganzes noch die Ost-Grünen können ganze Entwicklungsschritte einfach überspringen. Müssen wir also nur warten, bis auch in Ostdeutschland das soziale Milieu gewachsen ist, auf dem die Grünen gedeihen? Reicht der Verweis darauf, daß die Grünen ja auch ein Jahrzehnt brauchten, bis sie zu einer stabilen politischen Kraft wurden? Ich bin skeptisch gegenüber dieser Art von Gedulds- und Durchhalteparolen. Der Osten lebt nicht in den siebziger Jahren.

Was seit 1994 und jetzt nach den Wahlen in Sachsen-Anhalt als „Niedergang der Bündnisgrünen“ erscheint, ist nichts als die Ankunft in der bundesdeutschen – genauer: ostdeutschen – Realität, in der der „Wendebonus“, der uns 1990 noch in einige Länderparlamente getragen hat, nicht mehr zählt.

Allerdings: Die Verhältnisse der Grünen-Ost könnten die West- Grünen bald einholen. Die „fetten Jahre“, die Jahre des Verteilens und des scheinbar grenzenlosen Wohlstands, von dem die Grünen- West ebenso profitiert haben wie sie ihn kritisierten, sind vorbei. Die Grünen haben sich verändert, und das ist gut so. Daß Entwicklung schmerzhaft ist, hat sie nicht gehindert, wesentliche politische Positionen weiterzuentwickeln und Brüche und Konflikte in Kauf zu nehmen. Dieser Prozeß ist noch nicht abgeschlossen und wird es hoffentlich nie sein. Dennoch: Die Mischung aus Vision und Realitätssinn ist in den Jahren seit 1990 besser ausbalanciert, und das ist sicher auch jenen zu verdanken, die in den langen Jahren der DDR gelernt haben, wie überlebenswichtig eine solche Balance sein kann. Aber politische Identitäten werden nicht nur in Personen und Programmen tradiert, sondern mehr noch in kulturellen und historischen Kontinuitäten.

Gibt es überhaupt eine gemeinsame Identität von Bündnis 90/Die Grünen in Ost und West? Gibt es einen gemeinsamen Bezug sowohl auf 1968 wie auf 1989, auf den Pariser Mai wie auf den Prager Frühling, auf die Leipziger Demos ebenso wie auf Brokdorf? Der Grundkonsens, das bei der Fusion der Parteien als gemeinsame inhaltliche Basis beschlossene Papier, hat das vorweggenommen. Aber er wurde nie wirklich als das angenommen, was er sein sollte: Ausdruck des gemeinsamen Neuanfangs in einer für alle neuen politischen Situation. Die Einsicht, daß es auch ihre alte Bundesrepublik nicht mehr gibt, setzt sich bei den Westbundesbürgern und ihren Grünen nur sehr langsam durch. Marianne Birthler

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