Friedenslernstoff: Die Geschichte entwaffnen
Mit einem Schulbuch, das beide Perspektiven zeigt, wollen Lehrer aus Israel und Palästina den Konflikt entschärfen. Doch die Behörden beider Länder mauern.
Diesmal haben sie es gewagt. Nach vier Jahren gemeinsamer Arbeit dachten sie, dass sie es ertragen würden, die Geschichten der anderen zu hören. Also haben sich die zwanzig palästinensischen und israelischen Lehrerinnen und Lehrer in den Konferenzsaal des Braunschweiger Georg-Eckert-Instituts gesetzt und erzählt. Einen Nachmittag haben die Palästinenser davon gesprochen, wie sie in israelischen Gefängnissen gefoltert wurden, und am nächsten Nachmittag haben die Israelis von ihrem Militärdienst in den besetzten Gebieten erzählt.
"Ich wusste, dass diese Dinge existieren", sagt einer der Israelis hinterher und schluckt. "Aber ich kannte sie nur als Statistik." Er hat Wachdienst in dem Gefängnis gemacht, in dem einer der Palästinenser gefoltert wurde.
Die Geschichte des anderen hören: Das ist auch das Prinzip des Schulbuchs, das die Gruppe gemeinsam erarbeitet hat. "Learning each others historical narrative" heißt es und soll die israelisch-palästinensische Geschichte des 20. Jahrhunderts aus beiden Perspektiven zeigen: Links steht die israelische Erzählung, rechts die palästinensische und in der Mitte ist Platz für diejenige der Schüler. Die Methode hat der israelische Psychiater Dan Bar-On entwickelt, inspiriert von seiner Gesprächsarbeit mit den Nachkommen von Tätern und Opfern des Nationalsozialismus. Dabei ist das Prinzip, Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu schildern, keineswegs neu. Aber es ist revolutionär, wenn die Regierungen der beteiligten Gruppen noch mitten im Konflikt stehen. "Die Entwaffnung der Geschichte" nennt es der palästinensische Erziehungswissenschaftler Sami Adwan, der gemeinsam mit Dan Bar-On das Peace Research Institut in the Middle East (Prime) leitet. Unter dessen Dach haben sie 2002 das Schulbuchprojekt initiiert.
Die praktischen Fragen waren die einfachsten: Sie haben Gelder von Stiftungen in den USA, dem Auswärtigen Amt und der EU eingeworben und mit dem Georg-Eckert-Institut (GEI) für internationale Schulbuchforschung einen neutralen Ort gefunden, um sich zu treffen. Es ist ihnen gelungen, sich auf die Ereignisse zu verständigen, die in dem Text vorkommen sollen: Zum Beispiel die Balfour Deklaration 1917, in der die britische Regierung ihre Unterstützung für eine "nationale Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" zusagte, der Sechs-Tage-Krieg, die Intifada. Aber als sie sich die fertigen Texte gegenseitig vorstellten, fanden es die Israelis inakzeptabel, dass die Palästinenser von einem Genozid sprachen, und die Palästinenser wollten nicht hinnehmen, dass in der israelischen Version von Terroristen die Rede war. Doch sie konnten sich auf Umschreibungen einigen, und aus den Terroristen wurden Selbstmordattentäter.
Im Lauf des Projekts stiegen palästinensische Lehrer aus, die nicht länger die Gelassenheit fanden, Gewichtungen und Begriffe zu diskutieren, während ihre Häuser zerstört und sie von israelischen Soldaten gedemütigt wurden. Die Treffen vor Ort sind zunehmend schwierig geworden. "Ich gehe nicht nach Bethlehem", sagt ein israelischer Lehrer. "Ich bin Familienvater, ich kann das nicht verantworten. Die palästinensischen Lehrer könnten uns im Falle des Falles nicht schützen. So wenig, wie wir sie schützen könnten." Da die Mauer um Bethlehem, die die israelische Regierung gerade baut, die Stadt bald vollständig umschließen wird, überlegt die Gruppe, dann nur noch uninationale Treffen abzuhalten und sie per Video zu übertragen.
Dennoch ist es den Teilnehmern gelungen, das Buch abzuschließen. Als die LehrerInnen und Lehrer den Text probeweise in ihren Klassen benutzten, wurde rasch klar, dass die Ablehnung auf palästinensischer Seite deutlich größer ist. "Was tue ich, wenn meine Schüler sagen, dass das alles Lügen sind?", hat eine palästinensische Lehrerin beim letzten Treffen gefragt. Aber es gibt Ausnahmen: Die Direktorin einer palästinensischen Mädchenschule sagt, dass das Buch bei ihr gut aufgenommen worden sei.
Da es bislang weder von den palästinensischen noch von den israelischen Schulbehörden zugelassen worden ist, benutzen die Lehrer es heimlich und in freiwilligen Stunden außerhalb des Unterrichts. Zwar hat sich die liberale israelische Bildungsministerin Yuli Tamir (Arbeitspartei) kürzlich dafür ausgesprochen, auch die Sicht der Palästinenser im Unterricht zu berücksichtigen. Doch sie hat sich lediglich auf palästinensische Schulen auf israelischem Boden bezogen. Außerdem gilt sie als einflusslos im Kabinett. Noch rät man den Prime-Mitarbeitern, mit dem Antrag auf eine offzielle Zulassung des Buches zu warten. Damit sei gesichert, dass es zumindest nicht offziell verboten wird.
Deshalb hat die Direktorin der Mädchenschule die Eltern um Erlaubnis gebeten, das Buch zu benutzen, zugestimmt haben 25 von 28. Druck auf die drei Neinsager ausüben kann und will sie nicht: "Ansonsten werden sie dich Verräter nennen." Aber eine Schülerin, die nicht teilnehmen wollte, nachdem ihr Vater nach einem Gefängnisaufenthalt gestorben war, haben sie doch zum Bleiben aufgefordert. "Sie blieb und am Ende hat sie eine hübsche Zeichnung gemacht", sagt die Rektorin. Ein Bild, auf dem sie die palästinensische und die israelische Fahne zu einer einzigen verschmolzen hat.
Das sind die guten Geschichten. Aber die sind wie Inseln in einem Meer von Schwierigkeiten. Bereits der Aufenthalt im Georg-Eckert-Institut erfordert einiges an Offenheit. Beim letzten Treffen ist die Gruppe durch das KZ Neuengamme geführt worden. Dort hat Achim Rohde, der beim GEI für das Prime-Projekt zuständig ist, über die Foltermethoden der Nationalsozialisten gesprochen. "Das ist doch so, wie sie es bei uns machen", hat einer der Palästinenser gerufen. Hinterher fanden einige, dass es ein Fehler gewesen sei, nach Neuengamme zu fahren. Rohde meint dagegen, dass es etwas bewirkt habe. "Es war der Anlass für die Israelis zu fragen: ,Wenn du dich durch den Besuch hier an die Folter erinnert fühlst - wie war es denn?'"
An diesem Nachmittag auf der sonnigen Veranda des Georg-Eckert-Instituts ist die Stimmung freundlich. Nahezu unwirklich freundlich, denn einer der palästinensischen Lehrer hat gerade gesagt: "Einer meiner Schüler ist heute erschossen worden." "Es ist noch so viel zu tun", sagte Dan Bar-On fünf Minuten zuvor. "Die Wirklichkeit ist so kompliziert".
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