Freizeitbeschäftigung Sportkonsolen: Sport oder Wii?
Spielehersteller wie Nintendo bringen mit Sportkonsolen Bewegung ins Wohnzimmer. Unser Experte testet das meistverkaufte Gerät namens Wii
Die akute Wiitis soll eine Krankheit sein. Sie ist aber auch eine Freizeitbeschäftigung für bis zu zehn Millionen Europäer. Bei ihnen steht zu Hause vor einem Fernseher die Spielkonsole Nintendo Wii. Sie alle versuchen dann, mit Händen und manchmal mit den Füßen die Figuren auf dem Bildschirm zu steuern, damit die mit dem Tennisschläger einen Ball treffen oder mit dem Boxhandschuh möglichst oft die Gegnernase. Und manche strecken und dehnen ihre Muskeln und Sehnen so sehr, dass sie noch stärker anschwellen als die gegnerischen Pixel-Gesichter beim Boxkampf.
Es gibt Wissenschaftler, die deswegen eine akute Wiitis diagnostizieren - ganz ernsthaft. Exakt vierzehn Verletzungsmuster haben Mediziner des University College Ohio 2009 in einem Paper identifiziert, darunter Prellungen und Platzwunden. Andere haben starke Schwellungen der oberen Extremitäten beobachtet. Britische Physiotherapeuten empfehlen zur Sicherheit fünf leichte Aufwärmübungen.
Bei alledem stellt sich die Frage: Sind Wii-Spiele ein Spaß, eine Sportart - oder sind sie gar die größte Gefahr für die Menschheit, gleich nach Schweinegrippe und Rot-Rot-Grün?
Dieser Artikel ist aus der aktuellen vom 3./4. Juli 2010 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk.
Die Wii: Der Spielehersteller Nintendo hat 2006 die Konsole Wii auf den Markt gebracht. Mit ihr kann man sich sportlich betätigen. Das Gerät ermöglicht über Sensoren, Spielfiguren mit der Bewegung eines Controllers zu steuern. Schnell wurde Wii, die um die 200 Euro kostet, zur meistverkauften Konsole der Welt. Erst im vergangenen Jahr gingen die Absatzzahlen zurück.
Die Konkurrenz: Sowohl das Playstation-Unternehmen Sony als auch Microsoft mit seiner X-Box arbeiten seit einiger Zeit an vergleichbaren Geräten. Sony will Ende dieses Jahres seinen Controller namens Move veröffentlichen. Mit dem "Project Natal" soll es möglich werden, noch einen Schritt weiter zu gehen und X-Box-Figuren mit Körperbewegungen und ganz ohne Joystick zu lenken.
Henning Budde steht in einem weiten Raum voller Flachbildschirme und weißer Lounge-Sofas. Aufwärmen? Er lächelt, spöttische Falten unterm Bart. Budde ist 38, Sportwissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität. In der Wii-Bar will er ausprobieren, ob ihm das Fuchteln vor dem Fernseher wie Sport vorkommt. Eine Kellnerin bringt Cola und die computergraue Wii-Fernbedienung. Man müsse meist den Knopf A drücken, sagt sie. Die Fernbedienung sieht aus wie ein Miniaturhundeknochen. Budde wählt mit dem unaufgewärmten Daumen Bowling.
Der Sportwissenschaftler lässt seinen Arm von hinten nach vorne schwingen. Via Bluetooth misst ein Sensor die Bewegung. Einige Kegel fallen um. Im Grunde, sagt Budde, würden dieselben Muskeln beansprucht wie auf der echten Bowlingbahn. Trapezmuskel im Rücken, Brustmuskel - und bei der klassischen Bowling-Bewegung auch die Beine. Nur nicht so stark. Und es fehlt die Kugel, der Widerstand. Budde ist ernüchtert: "Wenn man viel Alkohol trinkt, macht es vielleicht Spaß."
Oder wenn man in einem Altersheim wohnt. Im vergangenen Jahr haben zwei Münchner Studenten in mehreren deutschen Städten eine Wii-Bowling-Meisterschaft für Senioren veranstaltet. Die Rentner schienen begeistert. Eine Studie aus Bamberg stellt fest, dass sich die Koordination von Auge und Hand per Wii Bowling verbessern lässt, was sich auch auf der realen Bahn zeige. Budde bleibt skeptisch.
Beim Tennis haut er zunächst meist vorbei. Erst als er die Bewegungen auf ein Minimum reduziert, geht es besser. Er fläzt sich aufs Sofa und sagt: "Im Real Life passiert im Hirn mehr, auf jeden Fall." Der neuronale Aufwand erscheint ihm beim Wii-Spiel geringer. Beim Tennis kann man dem Ball nicht hinterherlaufen. Es gibt keine Fernbedienung für die Füße. "Die unteren Extremitäten werden überhaupt nicht belastet", sagt Budde, den Kopf auf der Couch-Lehne.
Es gibt Studien, die besagen, dass bei Wii-Spielen etwas mehr Kalorien verbrannt werden als bei gewöhnlichen Konsolen. Aber keinesfalls mehr als beim Sport. Ist Wii-Sport also kein Sport?
Das sei ja eine philosophische Frage, findet Budde. "Worum geht es denn beim Sport?" Darum Leute zu treffen, sich zu messen, um den Wettkampf? Oder darum Kalorien zu verbrennen, die Motorik zu schulen? Wenn einer sonst den ganzen Tag vor dem Fernseher liege, für ein, zwei Stunden Wii-Tennis aber aufstehe, sei das schon viel wert.
"Ich sitze beim Tennis", sagt Hennes. "Das ist gar kein Problem." Er ist 15, Schüler, hat nebenan mit seiner Schwester gerade gefochten. Jetzt zeigt er Budde, wie man boxt. Sie nehmen jeder eine zweite Fernbedienung in die Hand, ballen die Fäuste darum und hauen in die Luft. Die virtuellen Köpfe blinken. Hennes schlägt die Luft im Zwanzigzehnteltakt. Er strampelt mit den Armen, wie ein Ertrinkender, nur ohne Wasser, bis Buddes Männchen k. o. auf dem Boden liegt. Sie schwitzen. Es riecht ganz leicht nach verbrannten Kalorien. Zum ersten Mal wirkt das wie Fitness.
Können diese halbepileptischen Zuckungen gesund sein? "Es gibt keine guten oder schlechten Bewegungen", sagt Budde. Womöglich, überlegt er, belastet das ständige In-die-Luft-Schlagen die Gelenke stärker. Andererseits ist es ja nicht so, dass echtes Tennis nicht den Rücken kaputtmachen kann. "Sport ist ab einer gewissen Intensität immer eine willkürliche Schädigung von Biomasse", sagt der Wissenschaftler.
Hennes erzählt, dass seine Mutter die Wii wegen des Sport-Images besser findet als die Playstation. Er hat zu Hause auch ein Balanceboard und das Programm Wii Fit, mit Yoga, Aerobic und Dehnübungen. Er habe das sechs Wochen lang ausprobiert, dann sei es langweilig geworden. Sport im Verein, bilanziert Budde, bedeute eben auch sozialen Druck. Wenn man die Wii auslässt, ruft keiner an und fragt, ob man den Power-Knopf heute mal nicht gefunden habe.
Vielleicht, sagt Budde, sei dieses Balanceboard etwas für Ältere - er hat eine Weile versucht, mit Fußbewegungen eine Ebene auf dem Bildschirm gerade zu halten. Die Übungen erinnern ihn an das Aerobic-Hausfrauenfernsehen der Achtziger. Nur werde man etwas genauer angeleitet. Er stützt sich in Liegestützposition auf das Balanceboard und versucht die rote Linie auf seinem virtuellen Rücken in eine Position zu bringen, mit der der Rechner zufrieden ist. Der Fernseher zeigt die verbrauchten Kalorien an: 003.
"So viel verbrennst du bestimmt auch, wenn du elf Minuten einfach nur lebst", sagt Hennes Schwester.
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