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Freispruch in Sachen Freitod

Der Chefideologe der „Sonnentempler“, der Dirigent Michel Tabachnik, ist vom Vorwurf freigesprochen worden, Sektenmitglieder zum Selbstmord aufgefordert zu haben. Seine Schriften hätten mit dem kollektiven Sterben nichts zu tun

aus Paris DOROTHEA HAHN

Der Orchesterdirigent und Chefideologe des „Sonnentemplerordens“, Michel Tabachnik, ist unschuldig an den „Massenselbstmorden“ in seiner Sekte. So urteilte gestern das Strafgericht von Grenoble, vor dem sich der 58-jährige Schweizer wegen „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ und wegen „Aufrufen, die zu Selbstmorden führten“, verantworten musste. Die Richter vermochten keinen Zusammenhang zwischen Tabachniks apokalyptischen Schriften, die den „Tod durch Verbrennung“ verherrlichten, und dem makabren kollektiven Sterben Mitte der 90er-Jahre in der Schweiz, in Kanada und Frankreich zu entdecken, bei dem 74 Mitglieder der Sekte ums Leben kamen.

Der in der Schweiz lebende Dirigent erschien gestern nicht zu der Urteilsverkündung in Frankreich. Schon zu den Verhandlungen über seine mutmaßliche intellektuelle Verantwortung für das Massensterben im vergangenen April war er erst nach langem und öffentlich begründetem Zögern persönlich erschienen. Tabachnik fühlte sich als „Opfer“ und als „Sündenbock“ der französischen Justiz, so hatte er es auch im Vorfeld in einem Buch geschrieben. Im Falle einer Verurteilung gestern hätte er bis zu fünf Jahren Gefängnis riskiert.

Über die Persönlichkeit von Tabachnik hat das Gericht im Laufe der langen Verhandlungen nur wenig Erhellendes erfahren. Der einstmals renommierte Orchesterdirigent, der bis zu dem Massensterben mit seinem Repertoire der klassischen Moderne weltweit Auftritte hatte, hielt sich bedeckt.

Zahlreiche Zeugen, Exmitglieder der Sekte, die bis heute in deren Ideologie zu leben scheinen, bemühten sich, ihn zu entlasten. Zwar nannten auch einige Zeugen Tabachnik den „Intelligentesten an der Spitze“ des zwischenzeitlich angeblich aufgelösten Sonnentemplerordens. Doch er selbst stellte sich vor Gericht als Opfer dar. Er sei, so Tabachnik, von Sektenguru Di Mambro, der ebenfalls bei einem kollektiven Sterben der Sekte umkam, „manipuliert“ worden.

Zu Beginn der Ermittlungen hatte Tabachnik sogar bestritten, überhaupt zu der Sekte gehört zu haben. Erst nachdem Fotos von ihm in Talaren bei geheimen Versammlungen auftauchten und nachdem ihn Zeugen als „Nummer drei“ der Sektenhierarchie identifiziert hatten, gab er zu, die Doktrin des „Sonnentemplerordens“ geschrieben und weltweit in Seminaren verbreitet zu haben. Allerdings bestritt er bis zum Schluss, mit seinen Texten zu Selbstmorden aufgerufen zu haben.

Seine Verteidigung vor Gericht überließ der Angeklagte meist seinem Anwalt. Der wortgewaltige Francis Szipner, der auch schon Staatspräsident Chirac verteidigte, kritisierte, Tabachnik sei wegen seiner Schriften angeklagt – eine Verurteilung käme einem Angriff auf die Meinungsfreiheit gleich.

Was den angeklagten Tabachnik in Grenoble zusätzlich stärkte, war die Zerstrittenheit der Nebenkläger – Angehörige der 74 Opfer –, die mit im Gerichtssaal saßen. Während einige von ihnen auf die Verurteilung eines geistigen Urhebers drängten, argumentierten andere, dass der Prozess von Grenoble „verfehlt“ sei, weil die angeblich „echten Täter“ noch immer frei herumliefen. Mehrere Opferangehörige wollen weiter darauf drängen, dass die Justiz nach einem „externen Mordkommando“ sucht.

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