Freiheitsbeschränkung im Pflegeheim: An das Bett gefesselt
Alte Menschen werden in Heimen oft mit Gurten oder Bettgittern fixiert. Aber wo ist die Grenze zwischen Schutz und Freiheitsberaubung?
DÜSSELDORF dpa | In Deutschland werden nach Ansicht des nordrhein-westfälischen Justizministers Thomas Kutschaty (SPD) zu viele Menschen in Alten- und Pflegeheimen fixiert. In den Jahren 2000 bis 2010 habe sich die Zahl solcher betreuungsgerichtlich erteilter Genehmigungen bundesweit auf fast 100.000 Fälle verdoppelt, sagte Kutschaty in Düsseldorf. Er will bei der Herbstkonferenz der Justizminister von Bund und Ländern am Donnerstag in Berlin für eine Verringerung solcher freiheitsbeschränkender Maßnahmen werben.
In NRW sei die Zahl der genehmigten Fixierungen deutlich gesunken. Dies sei durch Schulung und Sensibilisierung der Richter gelungen. Dadurch seien im vergangenen Jahr rund 40 Prozent weniger Fixierungen in Alten- und Pflegeheimen genehmigt worden als noch 2010.
Bei der Justizministerkonferenz werde er den anderen Bundesländern anbieten, ihre Richter an Schulungen in NRW teilnehmen zu lassen, kündigte der SPD-Politiker an. „Es gibt sehr gute Alternativen zu Bettgittern und Bauchgurten, wie zum Beispiel herunter fahrbare Betten oder spezielle Polster, die besonders sturzempfindliche Körperregionen schützen.“
Stationäre Pflegeheime in NRW seien nach einer aktuellen Gesetzesänderung verpflichtet, Konzepte gegen Fixierungen vorzulegen, teilte NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) mit. Mit der seit Oktober geltenden Regelung solle das Bewusstsein für die Rechte von Pflegebedürftigen und deren Bedürfnis nach Freiheit weiter geschärft werden.
Oftmals fehlt die richterliche Erlaubnis
Patientenschützer gehen davon aus, dass für 20 Prozent der sogenannten freiheitsentziehenden Maßnahmen keine notwendige richterliche Erlaubnis vorliegt. Die Justizminister der Länder müssten den Medizinischen Dienst der Krankenkassen auffordern, nicht genehmigte Fixierungen anzuzeigen, forderte die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Die Beschneidung von Grundrechten sei kein Kavaliersdelikt, sagte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch.
Statistisch gesehen stürze etwa ein Drittel aller 65-Jährigen mindestens einmal pro Jahr, berichtete Kutschaty. Bei Pflegebedürftigen in Einrichtungen oder Krankenhäusern könne sich das Sturzrisiko durch Krankheit noch erheblich erhöhen.
Freiheitsentziehende Maßnahmen zum Schutz von Personen, die unter Betreuung stehen, müssen von Amtsgerichten genehmigt werden. Die Zahl der gesetzlichen Betreuungen ist nach Angaben des NRW-Justizministeriums zwischen 2000 und 2012 bundesweit um über 400.000 auf rund 1,3 Millionen gestiegen. Bei sturzgefährdeten Personen in diesem Kreis können Genehmigungen für Fixierungen mit Leibgurten oder Bettgittern erteilt werden.
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